IV-Betrugsprozess: Verteidigung verlangt Freisprüche für alle vier Angeklagten, Urteil wird in zwei Wochen verkündet

Hat die Familie von Vater Dejan, Mutter Marija, Sohn Milan und Schwiegersohn Josip (Namen geändert) die Sozialbehörden um 960’000 Franken betrogen? Das ist die Frage, die das Bezirksgericht Brugg beantworten muss. Während zwei Prozesstagen versuchte die Staatsanwaltschaft das Gericht davon zu überzeugen, dass Dejan mehreren Ärzten, Psychiatern und Gutachtern eine Krankheit vorspielte und sich so eine IV-Rente erschlich.

Milan und Josip sind gemäss Anklage Mittäter, die bei den Behörden falsche Aussagen zum Gesundheitszustand von Dejan gemacht und den IV-Betrug so organisiert haben. Marija und Dejan werden zudem beschuldigt, beim Sozialhilfeantrag verschwiegen zu haben, dass sie in ihrem Heimatland ein Grundstück und zwei Häuser besitzen.

Sohn und Schwiegersohn: Haben sie den Betrug inszeniert?

Am Dienstag hatte Staatsanwalt Lorenz Kilchenmann für Dejan eine Freiheitsstrafe von 42 Monaten, für Marija eine bedingte Geldstrafe von 2400 Franken und für beide einen Landesverweis von fünf Jahren gefordert. Am Mittwoch forderte Staatsanwalt Adrian Brechbühl für Sohn Milan und Schwiegersohn Josip je 18 Monate bedingt und eine Busse von 7500 Franken.

«Sie deckten und unterstützten die Simulation nicht nur, sie waren bei der Täuschung federführend», hielt er fest. Die beiden schirmten Dejan laut Brechbühl ab und sorgten dafür, dass der IV-Bezüger nicht befragt und untersucht werden konnte. Der Sohn und der Schwiegersohn arbeiteten im Gesundheitswesen, Milan als Psychiatriepfleger.

So hätten sie gewusst, wie sie Ärzten eine vermeintlich schwere psychische Krankheit des heute 63-jährigen Mannes glaubhaft machen könnten. Und sie hätten Dejan gesagt, wie er sich bei den Gutachterterminen, Arztkonsultationen oder Untersuchungen zu verhalten habe.

Verteidigung sieht Einsatz von Sozialdetektiv als illegal

Die Verteidigung versuchte an beiden Tagen, das Gericht zu überzeugen, dass die Verhandlung abgebrochen, das Verfahren eingestellt, oder der Prozess verschoben werden müsse. Ihr Angriffspunkt war die Observation von Dejan, die an elf Tagen zwischen dem 20. April und dem 11. August 2016 stattfand.

Die Sozialversicherung Aargau (SVA) liess den Mann von einem Sozialdetektiv überwachen. Für die Verteidigung ist die Observation doppelt illegal: Erstens habe es keinen Anfangsverdacht gegen Dejan gegeben, zweitens habe laut dem Europäische Gerichtshof in der Schweiz keine gesetzliche Basis dafür gegeben.

Observation ist die Basis für das ganze Verfahren

Schon ganz zu Beginn der Verhandlung stellte Rechtsanwalt Andreas Noll, der Milan vertritt, den Antrag, die Observation als rechtswidrig zu erklären und die Ergebnisse aus den Akten zu entfernen. Aus seiner Sicht sind die Videos und Fotos, die bei der Überwachung entstanden und Dejan 2016 beim Rasenmähen, bei Restaurantbesuchen, oder beim Heben schwerer Zementsäcken in einem Baumarkt zeigen, illegal beschafft worden. Verteidiger Noll sagte, diese Beobachtungen und weitere
Ermittlungsergebnisse seien nicht als Beweise verwertbar.

Nach der Observation wurde bei Dejan eine Hausdurchsuchung angeordnet. Dabei wurden weitere Fotos und Videos gefunden, welche den IV-Bezüger in den Jahren 2009 bis 2015 bei Familienfeiern, in den Ferien, oder am Steuer eines Autos zeigen. Geht es nach der Verteidigung – Nolls Antrag schlossen sich alle Rechtsvertreterinnen und – vertreter der Familie an – dürften all diese Aufnahmen und Dokumente nicht gegen die Beschuldigten verwendet werden.

Staatsanwaltschaft hält Überwachung für zulässig

Staatsanwalt Kilchenmann entgegnete, die Observation sei völlig zu Recht angeordnet und die Beweise seien korrekt erhoben worden. «Es gab Verdachtsmomente bei der IV-Stelle, weil der Beschuldigte sich weigerte, sich behandeln oder begutachten zu lassen», sagte er. Würde man der Verteidigung folgen, wäre bei unklaren Fällen gar nie eine Observation möglich.

Das Gericht führte den Prozess trotz der Anträge der Verteidigung weiter. Ob die Observation legal war und die Ergebnisse als Beweise zulässig sind, soll bei der Urteilsberatung entschieden werden. Dafür nimmt sich das Gericht Zeit, das Urteil wird am 18. Mai eröffnet.

Freisprüche für alle vier Angeklagten beantragt

Sollte das Gericht die Fotos und Videos zulassen, fordert die Verteidigung auch aus inhaltlichen Gründen vier Freisprüche.

  • Daniel Christe, der Verteidiger von Dejan, hielt fest, die Teilnahme an Familienfesten, oder Ferien mit Freunden liessen nicht zwingend auf Simulation schliessen. Es werde aus psychotherapeutischer Sicht
    sogar empfohlen, «nicht nur den ganzen Tag im stillen Kämmerlein vor sich hin zu leiden».
  • Beatrice Benz, die Verteidigerin von Marija, hielt fest, ihre Mandantin und Dejan hätten das Sozialhilfe-Formular mit einer Caritas- Mitarbeiterin ausgefüllt. Marija verstehe schlecht Deutsch und es sei unklar, ob sie nach Grundbesitz in der Heimat gefragt worden sei. Sicher liege keine Betrugsabsicht vor, eine Landesverweisung wäre für die Frau «eine Katastrophe».
  • Andreas Noll, der Verteidiger von Milan, hielt fest, die Vorwürfe von Staatsanwalt Brechbühl seien spekulativ. Es gebe keinen Tatplan und keine Hinweise auf Absprachen zwischen Vater, Sohn und Schwiegersohn. Milan sei in der Pflege tätig, aber bei weitem kein medizinischer Experte. Milan habe Ärzten auch keine falsche Angabe gemacht.
  • Silvio Bürgi, der Verteidiger von Josip, hielt fest, es sei nicht klar, wie sein Mandant hätte merken sollen, dass es Dejan besser ging, als dieser nach aussen angab. Hier werde eine Familie beschuldigt, ohne dass es Beweise gebe. Es sei nicht nachvollziehbar, warum der gut integrierte Josip das Risiko eines angeblichen Betrugs eingehen sollte.