Jeder zehnte Primarschüler wird in die Schule gefahren – der Bund meint: Das Problem wird überschätzt

Die Klagen ähneln sich. Immer mehr Kinder würden mit dem Auto in die Schule gefahren, bemängeln Schulleiter. Das führe zu gefährlichem Verkehr vor dem Schulhaus – oft auch zum Ärger der Anwohner. Die Schulen versuchen das Problem mit Plakaten und Parkverboten zu entschärfen.

Zuweilen greifen sie auch zu kreativen Mitteln: In Goldach im Kanton St. Gallen beispielsweise platzierte ein Hauswart einen Container extra so, dass nicht mehr direkt vor der Treppe zum Eingang des Schulhauses parkiert werden konnte.

Doch wie verbreitet ist das Phänomen der Elterntaxis überhaupt? Eine Studie des Bundes zur Mobilität von Kindern und Jugendlichen nennt detaillierte Zahlen. Erwartungsgemäss werden vor allem die Jüngeren chauffiert: Bei den 6- und 7-jährigen Kindern beträgt der Anteil der Schulwege, auf denen sie mit dem Auto gefahren werden, 13 Prozent. Bei den 10- bis 12-Jährigen sind es nur noch 7 Prozent. Insgesamt kommt das Auto bei Primarschülern bei jedem zehnten Schulweg zum Einsatz.

Spitzenwert in einekommensstarken Gemeinden

Bemerkenswert ist, dass es offenbar eine Rolle spielt, wie viel die Eltern verdienen. Denn die Studie zeigt: In einkommensstarken Gemeinden werden die 6- bis 7-Jährigen auf rund einem Drittel ihrer Schulwege mit dem Auto befördert. Das ist mehr als doppelt so viel wie im Durchschnitt.

Erstaunlicherweise gibt es hingegen zwischen Stadt und Land kaum Unterschiede. Anders bei den Sprachregionen: In der Westschweiz sind die Elterntaxis deutlich häufiger als in der Deutschschweiz. Die Studienautoren vermuten, dies liege vor allem daran, dass die Distanzen in der Romandie grösser sind, da mehr Kinder ausserhalb der eigenen Gemeinde zur Schule gehen.

«Problem wird überschätzt»

Die Zahlen der kürzlich publizierten Studie beziehen sich auf das Jahr 2015. Seither dürften sie kaum zurückgegangen sein – im Gegenteil. Man habe keine genauen Zahlen dazu, heisst es beim Lehrerdachverband. Zentralsekretärin Franziska Peterhans ergänzt aber: «Es ist ein Dauerthema, das Schulen immer wieder beschäftigt.»

Das Bundesamt für Strassen, das die Studie veröffentlicht hat, gibt dennoch Entwarnung: Der Anteil der Elterntaxis auf Schulwegen sei weniger hoch, als allgemein oft vermutet werde. Dass Kinder in die Schule gebracht werden, sei «ein häufig diskutiertes Thema und punktuell ein Problem, wird aber überschätzt», heisst es in der Studie. Der Anteil von Autowegen habe zwar zugenommen, bleibe im internationalen Vergleich aber moderat.

«Eine verpasste Chance»

Wird das Problem überschätzt, wie der Bund meint? «Keineswegs», findet Franziska Peterhans vom Lehrerverband. Wenn Kinder regelmässig gefahren werden, sei dies eine verpasste Chance, gibt sie zu bedenken: Auf dem Schulweg lernten Kinder Selbstständigkeit und hätten Gelegenheit für wichtige soziale Kontakte, Entdeckungen und Erlebnisse.

Der «Luxus-Taxidienst»

Franziska Peterhans vom Lehrerverband bestreitet keineswegs, dass es Ausnahmen gibt, in denen ein Taxidienst nachvollziehbar ist. Sie kritisiert aber: «Wenn das Elterntaxi aus reiner Bequemlichkeit eingesetzt wird, dann berauben Eltern ihre Kinder der Möglichkeit, ganz viel zu erfahren und auch zu lernen, was auf dem Schulweg eben möglich ist.»

Dass in einkommensstarken Gemeinden besonders viele Kinder gefahren werden, lässt laut Peterhans einen «Luxus-Taxidienst» vermuten: «Weil ein zweites Auto und Zeit vorhanden sind, werden Kinder gefahren.»