Kiffen, Gamen, fehlende Tagesstruktur: Immer mehr junge Erwachsene brauchen einen Beistand

Die Nachricht: Zahl der jungen Erwachsenen mit Beistand steigt

Die Feststellung lässt aufhorchen: Immer mehr junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren benötigen eine Beistand. Dies geht aus einem aktuellen Bericht der Konferenz für Kindes und- Erwachsenenschutz (Kokes) hervor. Die Kesb stellen erwachsenen Personen einen Beistand zur Seite, wenn wegen sie wegen schwerwiegender persönlicher Probleme nicht mehr in der Lage sind, ausreichend für sich selbst zu sorgen, und wenn ihre persönliche Würde gefährdet ist. Bei einer Kindswohlgefährdung erhalten Kinder einen Beistand.

Konkrete Zahlen zu den jungen Erwachsenen kann die Kokes keine nennen; sie stützt ihre Aussagen auf Rückmeldungen aus Beistandschaften. Zahlen der Kesb der Stadt Luzern bestätigen die Aussagen der Kokes. Registrierte sie 2015 noch 15 neue Beistandschaften für 18- bis 25-Jährige, so stieg diese Zahl bis 2020 auf 26 an, wie die Kesb auf Anfrage von CH Media sagt.

Mit welchen Problemen junge Erwachsene kämpfen

Die klassischen Problemfälle beschreiben Personen von der Front so: Die jungen Erwachsenen kiffen, gamen exzessiv, haben Bildungsdefizite, keinen Job, keine Tagesstruktur, psychische Probleme, Stress mit der Familie, brechen Berufstrainings ab, befinden sich in einer Abwärtsspirale.

Diese Angebote fehlen den Betroffenen

Peter Senn, Geschäftsführer des Gemeindeverbandes Soziale Dienstleistungen der Region Lenzburg im Kanton Aargau sagt: «Oft fehlt es an der Diversifizierung, Niederschwelligkeit und Flexibilität von Angeboten für die Altersgruppe der 18- bis 25-jährigen jungen Erwachsenen, die mit den spezifischen Schwierigkeiten dieser Lebensphase wie Lehrabbrüche, Unzuverlässigkeit oder Persönlichkeitsreifung konfrontiert sind.»

Gerade für diese Gruppe müssten Berufsbeistände viel Zeit aufwenden, um die Betroffenen wieder zurück auf die Spur zu führen. Haben sie das? Hört man sich in der Branche um, ist von einem hohen Zeitdruck die Rede – gerade dann, wenn bei mehreren zu betreuenden Personen gleichzeitig akute Probleme auftauchen.

Was sich ändern soll

Für die Kokes ist klar: Die fachlichen und persönlichen Kompetenzen von Beistandspersonen genügen nicht mehr, damit sie ihr Mandat im «wohlverstandenen Interesse» der betroffenen Personen ausüben können. Die Feststellung gilt generell, nicht nur für die jungen Erwachsenen.

Zentral sei, dass die Bestandspersonen über genügend Zeit verfügten, um ein Vertrauensverhältnis aufbauen zu können. Mit anderen Worten: Die verbeiständeten Personen sollen nicht nur «verwaltet», sondern vielmehr befähigt werden, ihr Leben wieder selber zu meistern.

Über was sich Menschen mit Beiständen beklagen

Nicht immer gelingt es, dieses Vertrauensverhältnis zu etablieren. Die Kescha ist eine Anlaufstelle für Personen, die wegen einer Massnahme im Kindes- und Erwachsenenschutz in Konflikt mit den Behörden stehen. 40 Prozent der 1324 gemeldeten Fälle im letzten Jahr betrafen Klagen über Beistände, oftmals fühlten sich Personen von ihnen zu wenig unterstützt. Häufig werden auch die vielen Wechsel bei den Beistandspersonen moniert.

Überraschend sind die Konflikte nicht. Die Beistände beschneiden von Amtes wegen die Selbstbestimmung der Betroffenen. Ignaz Heim, Präsident des Schweizerischen Verbandes der Berufsbeistandspersonen (SVBB) sagt, man könne nicht alle Probleme den Beiständen anlasten: «Mit gewissen Personen ist eine Zusammenarbeit fast unmöglich, weil sie nicht verstehen, dass sie Hilfe brauchen.»

Was die Beistände umtreibt – wichtige Fragen und Antworten

Rund 2400 professionelle Beiständinnen und Beistände begleiten etwa 58’000 erwachsene Personen und 32’000 Kinder. Sie sind Berater, Betreuerin, Vermittlerin, Vermögensverwalter oder Erzieherin, benötigen viel Wissen bezüglich sozialer Arbeit, aber auch juristische oder sozialversicherungsrechtliche Kenntnisse.

Gelassenheit und Humor helfen im manchmal turbulenten Alltag. Wie erleben sie ihren Berufsalltag? Und was ist geplant, um ihre Rolle zu stärken? CH Media listet die wichtigsten Aspekte auf.

Wie viel Zeit sollen die professionellen Beistände und Beiständinnen für die einzelnen Fälle zur Verfügung haben?

Gemäss der Kokes ging man bei der Einführung des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechtes im Jahr 2013 davon aus, dass eineinhalb Stunden pro Monat pro erwachsene Person genügen. Das tut es laut Kokes nicht. Sie strebt an, dass monatlich 2 bis 2,5 Stunden für Erwachsene und 2,5 bis 3 Stunden für Kinder zur Verfügung stehen. Ein Beistand mit einem Vollzeitpensum soll demnach maximal 60 Erwachsene und 50 Kinder gleichzeitig betreuen.

Sind die Berufsbestände und -beiständinnen zufrieden mit ihrer Arbeit?

85 Prozent sind generell zufrieden mit ihrer Arbeitssituation. Das geht aus einer aktuellen nationalen Umfrage des Schweizerischen Verbandes der Berufsbeistandspersonen (SVBB) hervor, an der mehr die Hälfte der Beistände teilgenommen haben.

Ist also alles gut?

Nein. Mehr als die Hälfte ist unzufrieden mit den zeitlichen Ressourcen, die ihnen zur Verfügung steht. Mehr als die Hälfte der Befragten leidet sodann unter übermässiger Müdigkeit und Erschöpfung. Fast 40 Prozent berichten von regelmässigen Schlafstörungen.

43 Prozent denken über einen Jobwechsel nach. Der Gemeinderat Emmen, die Exekutivbehörde des grössten Vororts der Stadt Luzern, stellt einen akuten Fachkräftemangel fest. Fünf der letzten sechs neu angestellten Berufsbestände seien direkt ab dem Studium und somit ohne Berufserfahrung zum Team gestossen.

Wie soll die Situation verbessert werden?

Die Kokes hat zusammen mit den Kantonen, den Gemeinden und dem Verband der Berufsbeistandpersonen zehn Empfehlungen ausgearbeitet. Einige Beispiele: Die Kantone und Gemeinden sollen niederschwellige Dienstleistungen wie Elternberatung, Beratung von Kindern und Jugendlichen, Schulsozialarbeit oder freiwillige Einkommens- und Vermögensverwaltung ausbauen, damit weniger Fälle auf dem Tisch der Berufsbestände landen – und mehr Ressourcen für die aufwändigen Mandate frei werden.

Ein Berufsbeistandsteams soll sodann aus mindestens 10 bis 14 Mitarbeitenden bestehen, damit im Team alle nötigen Fachkompetenzen vereint sind. Je nach Grösse von Kantonen und Gemeinden sind die Beistände aktuell unterschiedlich organisiert.

Eine weitere Reformidee: Künftig sollen sich Berufsbeistände ausschliesslich entweder um Erwachsene oder um Kinder kümmern. Bei jungen Erwachsenen (18 bis 25 Jahren) sind durchlässige Modelle vorgesehen. Geplant sind auch Investitionen in die Weiterbildung. Für den SVBB ist dies ganz wichtig.

«Viele Beistände sagen, sie könnten ihre Aufgaben besser stemmen, wenn sie mehr Fachunterstützung und mehr Weiterbildung hätten», sagt Heim. Viele Beistandsschaften verlangten Spezialwissen in rechtlichen, vermögensrechtlichen, pädagogischen, medizinischen und psychiatrischen Fragen. Kaum eine Beistandsperson könne in sämtlichen Bereichen trittsicher, sagt Heim.

Sind die Empfehlungen verbindlich?

Nein. Die Kokes kann nichts befehlen. Allerdings hat ihr Wort Gewicht. Sowohl die Kantone als auch die Gemeinden stehen hinter den Empfehlungen. Kathrin Schweizer (SP), Präsidentin der Kokes und Regierungsrätin im Kanton Basel-Landschaft, geht davon aus, dass die Umsetzung der Empfehlungen zunächst höhere Kosten verursachen wird, wie sie gegenüber der «Tagesschau» sagte.

Sie erhofft sich aber langfristig Einsparungen, weil die verbeiständeten Personen besser betreut und dadurch potenziell schneller wieder auf eigenen Beinen stehen können. Diese Hoffnung kommt nicht von ungefähr. Die Stadt Winterthur hat mehr investiert in die Beratung der Sozialhilfebeziehenden, damit aber letztlich die Steuerzahler geschont, weil es unter anderem gelang, die Sozialhilfebeziehenden wieder besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Bis wann werden die Empfehlungen umgesetzt?

Der Kokes schwebt vor, dass die Kantone und Gemeinden die Empfehlungen in 10 bis 15 Jahren umsetzen. Dem SVBB unterstützt die Empfehlung uneingeschränkt, doch das Tempo ist ihm zu langsam. Die Umsetzung der Empfehlungen sei eine Voraussetzung dafür, dass die regelmässig von Betroffenen und Angehörigen kritisierten Beistandswechsel zurückgingen, schreibt sie in einer Mitteilung.

Diese lange Frist werde der realen Arbeitssituation der Beistandspersonen und den Bedürfnissen der verbeiständeten Personen nicht gerecht. «Es ist zu hoffen, dass viele Arbeitgeber dennoch den unmittelbaren Handlungsbedarf erkennen und nicht allzu lange warten, bis sie die Empfehlungen der Kokes umsetzen», sagt Ignaz Heim.