Kinderarbeit oder Zeichen der Zeit? – MIT AUDIO

Michael Wyss: Die Japanerin Sakura Yosozumi ist erst 19 Jahre alt und trotzdem in ihrer Sportart schon so etwas wie die Oma. Sie hat sich die in Tokio die Goldmedaille im Skateboarden gesichert und sich damit dem grossen Angriff der kleinen Kinder erwehrt. 12, 13 und 15 Jahre alt sind die Sportlerinnen hinter ihr. Kinderarbeit ist zu Recht verpönt, in gewissen Sportarten scheint das aber keine Rolle zu spielen. Ein neuartiges Phänomen, das mit den früheren Entwicklungsphasen zu tun hat? Das dachte ich bis jetzt, aber 1936 war die US-Wasserspringerin Marjorie Gestring noch ein paar Tage jünger, als sie sich Olympiagold schnappte. Das wiederum ändert aber nichts an meiner Auffassung, dass das nicht gesund ist. Selbstredend ist die Entwicklung eines jungen Menschen im Alter von 12 oder 13 Jahren noch nicht abgeschlossen. Deshalb sollen die Kinder behutsam an den Spitzensport herangeführt werden. Selbstverständlich muss ein Mädchen oder ein Junge heute in frühester Kindheit mit einem Sport beginnen, um es dereinst an die Weltspitze zu schaffen. Aber lassen wir die Kinder doch auch Kinder sein. Die körperliche Belastung ist nur das eine, das andere – und für mich noch viel schwieriger zu handelnde – ist der psychische Druck, wenn Kinder schon so früh ständig in der Öffentlichkeit stehen.

Melanie Gamma: Wie gross der psychische Druck auf alle Athletinnen und Athleten ist, haben wir in Tokio mehrmals gesehen. Am augenfälligsten war es bei Simon Biles. Der US-Turnstar holte in Rio de Janeiro 2016 viermal Olympia-Gold, in Japan fühlte sie sich mental nicht bei allen Wettbewerben imstande, anzutreten. Und als Elena Quirici nach ihrem Out im Karate heulend vor der Kamera Red und Antwort stand, fragte ich mich, wie gesund eine Olympia-Teilnahme überhaupt für die Psyche sein kann. Ob man 13 ist wie Skateboarderin Sky Brown, 24 wie Simone Biles, 27 wie Elena Quirci oder 66 wie die australische Dressurreiterin Mary Hanna. Die meisten haben ja aber glaube ich Spass im olympischen Zirkus, bei den Skateboarderinnen sah es jedenfalls danach aus. Da kann jugendliche Unbekümmertheit und Furchtlosigkeit ohnehin ein Vorteil sein. Aber klar, als Mutter fände auch ich es gut, wenn alle Kinder Kinder sein könnten, ehe sie sich dem Spitzensport widmen. Doch seien wir ehrlich, das ist etwa im Turnen, wo der internationale Verband ein Mindestalter von 16 Jahren für Olympia-Teilnehmende vorschreibt,  nicht der Fall. Da trainieren die Kleinsten in gewissen Ländern sicher mehr, als es für ihren Körper gesund wäre. Wie tief würdest du denn eine Alterslimite ansetzen?

mwy: Ich fände 16 das richtige Alter. Jetzt könnte man einwerfen, dass jedes Kind oder alle Jugendlichen in ihrer Entwicklung unterschiedlich weit sind. Das stimmt natürlich, aber wir haben auch beim Alkohol oder Autofahren eine Alterslimite – und die macht durchaus Sinn, weil sie auf Erfahrungswerte und Durchschnitte basiert. Auch 16 ist noch sehr früh, denn das menschliche Gehirn ist erst mit über 20 Jahren weitgehend entwickelt. Um alles zu verarbeiten und richtig einzuschätzen, braucht es also einfach ein gewisses Alter, das mit 12 oder 13 sicher noch nicht erreicht ist. Psychische oder körperliche Langzeitschäden könnten die Folgen sein.

gam: Will man mit einer Alterslimite wirklich die Jugend vor zu harten Trainingsmethoden schützen, müsste man sie wohl bei 18 Jahren ansetzen. Zum Vergleich: bei den Olympischen Jugendwettspielen darf nur dabei sein, wer zum Ende des Austragungsjahres mindestens 15 ist. Ich würde weiterhin Sportler aller Altersklassen zu den richtigen Olympischen Spielen zulassen. Stellt man einem Nachwuchstalent rechtzeitig einen guten Trainer und kompetente Betreuer zur Seite, kann es bei der Vorbereitung auf Olympische Spiele und am Event viel fürs Leben lernen – ohne die Gesundheit mehr zu gefährden als die erwachsenen Gegner.