Kinesiologie: Hier spricht das Unterbewusstsein

In ihrem ausgebauten und heimelig eingerichteten Dachboden in Murgenthal, der ihr als Praxis dient, empfängt mich Marlise Glogner. 2001 schloss sie ihre 3-jährige berufsbegleitende Ausbildung zur Kinesiologin erfolgreich ab. «Kinesiologie kann bei körperlichen, geistigen oder psychischen Ursachen hilfreich sein und ist eine riesige Chance, den unterbewussten Teil des Gehirns abzurufen», so die ausgebildete Primarlehrerin. Dies geschieht mithilfe des sogenannten Muskeltests. Wenn nämlich der Energiefluss im Körper wegen Stress unterbrochen ist, reagiert der Muskel schwach, weil er nicht mehr mit ausreichend Energie versorgt wird. Ist der Stress überwunden, ist der Muskel wieder stark und die Energie fliesst. Dabei kann irgendein funktionstüchtiger Muskel gewählt werden, wobei häufig die seitliche Oberarmmuskulatur gebraucht wird.

Also strecke ich meinen linken Arm waagrecht aus, während die Handinnenfläche nach unten zeigt. Marlise Glogner übt schliesslich leichten Druck mit ihrer Hand auf mein Handgelenk aus. Ich versuche, den Arm in dieser Position zu halten, während sie mithilfe von Fragen testet, wie mein Muskel und somit meine Persönlichkeit darauf reagieren. Kann der Muskel die Position halten, stimmt er der Aussage von Marlise Glogner zu. Gibt er etwas nach, ist das ein Zeichen dafür, dass sich mein System gegen die Aussage wehrt. Ich habe keine Chance, das Resultat bewusst zu manipulieren. Auch für mich als Laien ist der Unterschied zwischen einem starken und schwachen Muskel klar feststellbar.

Deutliche Zunahme von Personen mit einem Burnout

Zu Beginn der kinesiologischen Sitzung möchte die zweifache Mutter in einem Gespräch erfahren, was das Anliegen ihrer Klienten ist. «Partnerschaftlich suchen wir dann mithilfe des Muskeltests nach den Blockaden und finden deren Ursprung», so Glogner. Als ehemalige Lehrerin betreut sie viele Kinder mit hirnfunktionalen Blockierungen schulischer Natur. Aber auch Erwachsene, die nach vielen Jahren eine Weiterbildung anfangen, suchen fürs Lernen ihre Hilfe auf. Daneben begleitet sie viele Leute mit psychischen Beschwerden. Das sind Paare vor oder nach einer Scheidung oder Personen, die eine schwere Krankheit überwunden haben und nun in der ständigen Angst leben, die Krankheit könnte wieder ausbrechen. «Diesen Leuten versuche ich mit der Kinesiologie mehr Zuversicht zu vermitteln», sagt die 64-Jährige. In den letzten Jahren merke sie vor allem eine Zunahme von Leuten, die kurz vor einem Burnout zu stehen scheinen oder solche, die gemobbt werden.

Von anfänglichen Zweifeln zu purer Überzeugung

Bei der Euphorie und Überzeugung, mit der Marlise Glogner von der Kinesiologie erzählt, merkt man nichts mehr von den anfänglichen Zweifeln, die sie hatte. Mit vier Jahren wurde ihre Tochter eine schlimme Erkältung trotz medizinischer Massnahmen über Wochen nicht mehr los, sodass in der Folge eine Gelenksentzündung dazukam und der Arzt Antibiotika verschreiben musste. Nach ein paar Tagen war die Entzündung Geschichte, doch ihre Tochter schien nicht mehr die Gleiche zu sein. «Sie war völlig hypoaktiv», erinnert sich Marlise Glogner zurück. Sie habe ihre Tochter nicht mehr wiedererkannt. Durch eigenes Forschen erfuhr sie, dass solche Veränderungen nach der Einnahme von Antibiotika häufig im Zusammenhang mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten auftauchten. Auf Empfehlung einer Bekannten hin besuchte sie mit ihrer Tochter eine Kinesiologin. «Ich wollte den langwierigen Prozess beim Schulmediziner zur Findung der Unverträglichkeit vermeiden», sagt Glogner, die bis dahin nichts über Kinesiologie wusste und dem gegenüber kritisch eingestellt war. Die Kinesiologin testete aus, welche Unverträglichkeiten ihre Tochter hatte und diese mied die Familie ab sofort. Drei Tage später war ihre Tochter die alte. «Ich dachte mir: Über diese Technik muss ich mehr erfahren», erzählt Glogner mit einem Lachen. Nach dem Besuch von ein paar Kinesiologievorkursen liess sie die Therapie nie mehr los.

«Wenn man von Anfang an eine gewisse Offenheit mitbringt, verhilft Kinesiologie jedem zu mehr Lebensqualität», weiss Marlise Glogner, die auf durchweg positive Erfahrungen zurückgreifen kann. Sie sei froh, mehrere Wege zu kennen, um ein erwünschtes Ziel zu erreichen. Sie sei keine Gegnerin der Schulmedizin, ganz im Gegenteil: «Ich finde es sehr wichtig, dass diese beiden Bereiche zusammenarbeiten.» Als diplomierte Integrative Kinesiologin ist sie ASCA- und EMR-anerkannt, sodass die Kosten bei allen Krankenkassen über die Zusatzversicherung für Komplementärtherapien abgerechnet werden können. Eine Stunde bei Marlise Glogner kostet 120 Franken.

 

SERIE

Alternativmedizin ist ein Begriff, dem lange Zeit viele Menschen skeptisch gegenüberstanden. Dabei können alternative Heilmethoden durchaus Wirkung zeigen. Wie breit sich der Markt mittlerweile präsentiert, beweist die Serie «Alternative Therapiemöglichkeiten». Dabei stellt sich Redaktorin Katrin Petkovic den bekannteren Methoden wie Kinesiologie oder Ayurveda. Sie versucht sich aber auch in einer weniger geläufigen Therapie, nämlich dem Hair Impulsing.

Chiropraktiker entdeckt Spiel zwischen Muskeln und Psyche

Der Begründer der Kinesiologie ist der amerikanische Chiropraktiker George Goodheart (1918–2008). Er bemerkte bei einigen seiner Patienten, dass die chiropraktische Behandlung von Verspannungen kaum anschlug und auch bestimmte Muskeln nur schwach auf Reize reagierten. In der Folge ordnete er diesen Muskeln bestimmte Erkrankungen der inneren Organe, Fehlhaltungen und psychische Beschwerden zu. Er ging davon aus, dass die Funktionsfähigkeit der Muskulatur in einem engen Zusammenhang mit der physischen und geistigen Gesundheit steht. Dabei bediente er sich der Konzepte der Traditionellen Chinesischen Medizin und der Lebenskraft Chi, welche entlang von Leitlinien, den sogenannten Meridianen, durch den Körper fliesst.

Basierend auf Aspekten der Physiotherapie, Chiropraktik, Homöopathie, Pädagogik und Psychologie entwickelte Goodheart dann in den 1960ern ein Diagnosesystem in Form von speziellen Muskeltests, um energetische Blockaden zu diagnostizieren und zu behandeln. Diese als Kinesiologie (englisch «applied kinesiology») bezeichnete Technik wurde zunächst nur von medizinisch ausgebildeten Praktikern angewendet. John Thie (1933–2005), ein amerikanischer Chiropraktiker und Schüler Goodhearts, wollte das Basiswissen der Kinesiologie einem grösseren, nicht-medizinisch ausgebildeten Publikum zugänglich machen und entwickelte eine vereinfachte Version als Methode zur Selbsthilfe. 1973 veröffentlichte er das Buch «Touch for Health», in dem die Anwendung der Kinesiologie als gesundheitsfördernde Massnahme für Laien beschrieben wird.(pd/kpe)