
Konzentrationsstörungen und bleierne Müdigkeit: Long Covid wird zur neuen Volkskrankheit
Eineinhalb Jahre sind vergangen, seit Esther Brunner gemerkt hat: Es ist nichts mehr wie vorher. Da war sie seit drei Wochen von Corona genesen. Bei der Arbeit blieb plötzlich kaum noch ein Gedanke hängen, so unkonzentriert war sie und abends komplett erschöpft. Long Covid, diese schwer einzugrenzende Folge einer Coronainfektion, war damals noch kaum bekannt: andauernde Erschöpfung, Schlafstörungen, Wortfindungsstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, schlechtes Kurzzeitgedächtnis, manchmal Gelenkschmerzen, Kopfweh und Verdauungsstörungen.
Im Sommer 2020 ging es Esther Brunner besser, im Herbst erfolgte ein Rückfall. Noch im März dieses Jahres sagte sie gegenüber dieser Zeitung, sie arbeite nur noch 30 statt 80 Prozent – mehr als drei Stunden am Stück könne sie sich nicht konzentrieren. Wenn sie sich übernehme, folge ein Crash, nachdem sie tagelang kaum noch aus dem Bett komme.
Und heute? Esther Brunner arbeitet wieder ihr vorheriges Pensum, Zusammenbrüche passieren keine mehr. «Ich bin aber noch weit davon entfernt, dass ich meine Hobbys wieder aufnehmen und Freundschaften so pflegen könnte, wie ich es mir vor der Erkrankung gewohnt war», sagt sie.
Schweizweit – und weltweit – haben Spitäler Anlaufstellen für Long-Covid-Betroffene erschaffen. Doch eine anerkannte Therapie gibt es noch nicht. Zu neu ist die Krankheit. Zwar ist ein Erschöpfungssyndrom unter der Bezeichnung ME/CFS schon lange bekannt, bei dem in den meisten Fällen Virusinfektionen der Auslöser sind. Doch Forschung gab es kaum, die Diagnose fristete ein Schattendasein.
Niemand hat in der Schweiz Zeit, das Wissen zu bündeln
Das hat sich geändert. Täglich erscheinen neue Studien über die Langzeitfolgen einer Corona-Infektion. Bloss: die Therapien bleiben uneinheitlich für jene, die nicht an Organschäden wie eine kaputte Lunge leiden, sondern die Krankheit nur mild hatten, aber nun neurologische Symptome haben. In der Schweiz bündelt noch niemand das Wissen. Denn das medizinische Personal, welches sich den Long-Covid-Fällen angenommen hat, ist überlastet, die meisten Long-Covid-Sprechstunden haben Wartelisten.
«Ich lese täglich viele neue Studien zu Long Covid», sagt Margret Hund-Georgiadis, Chefärztin bei Rehab Basel, «aber ich kann nicht nebenher einen Kongress organisieren zur Long-Covid-Therapie. Vielleicht klappt das 2022.» Auch Thomas Sigrist, Chefarzt Pneumologie in der Rehaklinik Barmelweid im Aargau, sagt: «In der Schweiz hat sich dem Wissensmanagement über Long Covid noch niemand angenommen, auch ich nicht. Aktuell ist es nicht einfach über die Runden zu kommen.» Normalerweise werden solche Kongresse von Hochschulen organisiert, doch dort gibt es nur selten Lehrstühle für Reha. «Die Finanzkraft ist in unserem Gebiet klein, das hat die Pandemie bestätigt», sagt Sigrist. Der Arzt ist überzeugt: «Die Knopfdruck-Therapie wird es auch nach mehr Forschung nicht geben.»
Von einem Therapie-Ansatz kamen die Ärztinnen und Physiotherapeuten, Neurologinnen und Psychologen schnell weg: Jener des aufbauenden Trainings. «Jeden Tag einen Schritt mehr, was sonst für die Reha immer gilt, geht bei Long Covid nicht», sagt Thomas Sigrist.
Stattdessen predigen die Therapeutinnen und Ärzte in der Barmelweid, wie andernorts: Energie weise einteilen, Abstriche machen, Geduld haben. Viele Betroffene berichten, dass ihnen schon nur half, dass jemand sie ernst nahm und nicht sagte: «Die Blutwerte sind normal, Sie sind gesund.»
Was in der Reha nun gemacht wird, ist nichts komplett Neues
Dennoch entsteht der Eindruck von etwas hilfloser Medizin. Sigrist protestiert: «Was wir mit den Long-Covid-Patientinnen machen, ist nichts Neues!» In der Reha sei man noch nie auf die Diagnose fokussiert gewesen, sondern, dass sich die Funktionen verbesserten. Viele Krankheiten liessen sich nur langwierig heilen. Ob nun bei Leuten mit Raucherlunge, Herzinsuffizienz und eben mit neurologischen Problemen.
«Manchmal braucht der Körper Zeit», sagt Sigrist. So sieht er, dass sich der Ruhepuls bei vielen Patienten nach sechs bis neun Monaten normalisiert und er nicht mehr durch kleinste Anstrengungen hochgejagt wird. «Doch die Patienten fühlen sich oft noch nicht besser. Es ist eine langsame Erholung und manchmal trügt der Vergleich mit der Leistungsfähigkeit von früher.»
Atemtherapien oder Energieeinteilung – heilt das wirklich? «Ja, das Ressourcen-Management befeuert die Heilung genauso wie die richtige Atemtechnik, wenn dadurch die Lunge wieder besser durchlüftet ist und der Körper mehr Sauerstoff hat», sagt Sigrist. Besonders Männer müssten lernen, nicht mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, den Puls tief zu halten und den Körper besser wahrzunehmen.
Doch auch die Psyche leidet: Viele der Long-Covid-Betroffenen (häufig 25- bis 55-jährige Frauen) standen vor der Krankheit mitten im Leben und waren berufstätig, viele haben Kinder. Plötzlich runtergebremst zu werden und keine klare Prognose zur Dauer der Krankheit zu haben, macht Angst. «Vielen wurde der Boden unter den Füssen weggezogen, manche schrammten mit der Covid-19-Infektion tatsächlich knapp am Tod vorbei. Das hinterlässt Spuren», sagt Sigrist.
Krankenkassen bezahlen kaum stationäre Aufenthalte
Da inzwischen klar ist, dass Long-Covid sich aufs Nervensystem auswirkt, sind besonders viele Long-Covid-Patienten in der Neurorehabilitation im Rehab Basel. Die meisten ambulant, einige in der Tagesklinik. «Nur einzelne sind kurz stationär bei uns», sagt Hund-Georgiadis. Zwar wäre eine kurze stationäre Therapie bei mehr Long-Covid-Patienten sinnvoll, findet die Ärztin, doch viele wollten das nicht und die Krankenkassen seien auch nur schwer davon zu überzeugen. «Die Versicherer kennen die Krankheit noch nicht.»
Klar ist bislang: Nicht bei allen dauert die Heilung so lange wie bei Esther Brunner. Aber viele sind laut den beiden Fachleuten aktuell erst an dem Punkt, wo sie die ganze Energie auf den Beruf konzentrieren müssen, um den Job nicht zu verlieren und ihr ursprüngliches Pensum wieder zu erreichen.
Manche Ärzte befürchten, dass gewisse Fälle von Long Covid eine Autoimmunerkrankung sein könnte, wie vielleicht auch die eingangs erwähnte Chronische Fatigue ME/CFS. Margret Hund-Georgiadis ist überzeugt, dass Long Covid jedenfalls ein immunologisches Phänomen sei. Körperliche Defizite seien nur selten zu finden in der Gruppe der Long-Covid-Betroffenen, die meist einen milden Covid-19-Verlauf hatten. «Hingegen finden wir recht häufig tiefe Werte bei den neuro-kognitiven Tests und rasche Ermüdbarkeit. Der Gehirnnebel ist also real, und nicht eingebildet. Das ist ein Trost und bitter zugleich.»
Verlust an grauer Hirnmasse in typischen Regionen
Die Veränderungen sind auch in Gehirn-Scans ersichtlich. Eine noch nicht begutachtete Studie aus dem John Radcliffe Hospital in Oxford, England, zeigte das im Juni eindrücklich: Die Forschenden konnten auf 40000 Gehirnscans von vor der Pandemie zurückgreifen und erneute Scans machen: von 394 Leuten, die zwischenzeitlich an Corona erkrankt waren und 388 Leuten, die Covid nicht durchgemacht hatten. Sie sahen im Vergleich einen signifikanten Verlust von grauer Hirnmasse in jenen Regionen, die für Geruch, Gedächtnis und Gefühle zuständig sind. Eine andere Studie fand in genau diesen Hirnregionen eine Abnahme des Glukose-Stoffwechsels, also der Energieversorgung.
Der Basler Neurowissenschafter Dominique de Quervain, der bis Frühling Mitglied der Corona-Taskforce war, sagt dazu: «Es ist denkbar, dass die anhaltenden neurologischen Symptome bei Long Covid auf eine Schädigung dieser Hirnstrukturen zurückzuführen sind.» Möglich sei, dass das Virus über den Geruchsnerv ins Gehirn eindringe.
Dass der genaue Mechanismus noch unbekannt ist, hat auch damit zu tun, dass es zum Gehirn keinen einfachen Zugang gibt wie zu anderen Organen. Gehirnscans geben keine Auskunft über den molekularen Mechanismus und Obduktionen von Verstorbenen bringen wohl auch keine Erkenntnisse, da sich im toten Hirngewebe Long-Covid-spezifische Veränderungen nicht mehr nachweisen lassen.
Geimpfte sollten sich nicht extra anstecken lassen
Ob die Veränderungen im Gehirn komplett reversibel sind, ist ebenfalls unklar. «Die Symptome können zumindest monatelang anhalten», sagt de Quervain.
Klar sei, bei Covid-19 gehe es nicht nur um die hospitalisierten Fälle, «wir müssen auch die milderen Verläufe im Auge behalten. Und man sollte sich nicht absichtlich infizieren lassen, auch als Geimpfte nicht.» Dies, weil die Impfung Long Covid nicht vollständig ausschliessen kann. Sie schützt zu rund 60 bis 80 Prozent vor einer milden Infektion mit der Delta-Variante. Kommt es zum Impf-Durchbruch besteht nach wie vor ein Risiko für Long Covid: Eine Studie des King’s College in London, die Anfang September publiziert wurde, zeigt aber, dass Geimpfte, die trotzdem erkrankten, nur in halb so vielen Fällen nach vier Wochen noch Symptome hatten wie Ungeimpfte.
Die Impfung kann auch nachträglich die Symptome lindern
Die Impfung kann Long-Covid-Betroffenen auch nachträglich noch helfen. Laut einer Beobachtungsstudie berichten 57 Prozent der Long-Covid-Patienten, dass die Symptome nach der Impfung nachlassen. Esther Brunner sagt: «Ich weiss nicht genau, was zu meinem verbesserten Gesundheitszustand beigetragen hat. Ich hatte eine gute Physiotherapeutin und eine Sauerstofftherapie half deutlich. Ein Effekt trat zudem einige Wochen nach der zweiten Impfung ein, als ich förmlich spürte, wie mein Immunsystem rekalibriert wurde und seither wieder normal funktioniert.»
Unmittelbar seien zwar einige der Symptome zurückgekehrt, doch nun könne sie ihren Puls gefahrenlos wieder hochtreiben, ohne einen Crash zu erleiden.
Hoffnungen ruhen aktuell auch auf einem Medikament, das sonst für Herzkrankheiten verabreicht wird. BC 007 heisst es und hatte in Deutschland zur Genesung von vier Long-Covid-Patienten geführt. Die Heilung geschah über mehrere Wochen, doch teilweise habe schon Stunden nach der Infusion der Gehirnnebel nachgelassen, wie der «Spiegel» berichtete. Entdeckt wurde es in einer Augenklinik, wo die Ärztinnen feststellten, dass bei Long-Covid-Betroffenen oft die Blutzirkulation in der Netzhaut eingeschränkt war. Und sie fanden Autoantikörper, die auch bei der Augenkrankheit Grünen Star auftreten und verschiedene Körperbereiche angreifen.