Künstlerische Ermittlung gegen sich selbst

«Die Wahrheit eines Verfahrens ist nur eine Theorie über eine Wirklichkeit», sagt der Autor Ferdinand von Schirach. Wahr ist nur, was bewiesen werden kann. Das Urteil kann allenfalls verfehlen, was wirklich geschehen ist. In seinem Roman «Tabu» steht diese Wirklichkeit allerdings auf tönernen Füssen. Der renommierte Fotograf Sebastian von Eschburg ist des Mordes angeklagt. Doch die Indizien sind dürftig: ein blutiges Kleid, DNA-Spuren in einem Leihwagen, S/M-Utensilien und ein Anruf, der ihn belastet. Zeugen gibt es keine, die Leiche bleibt unauffindbar. Und doch liegt ein Geständnis vor: «Ja, ich habe sie umgebracht.» Weil unter Folter erzwungen, ist dessen Verwertbarkeit vor Gericht allerdings mehr als fraglich.

Regisseurin Eva Hosemann lässt Protagonist Sebastian von Eschburg (Philip Wilhelmi) in ihrer Bühnenfassung im Stadtsaal Zofingen die aus einzelnen Wandpanelen gestaltete Kulisse durcheinanderwirbeln. Der als Kammerspiel angelegte Stoff mit Bezügen zu Shakespeares Hamlet hebt die Dichotomien von Innen und Aussen, Vorder- und Hintergründigem, Schwarz und Weiss auf. Von Eschburgs Kindheitstrauma ist Treiberin des Stücks. Er muss in jungen Jahren miterleben, wie sich der Vater seinen Kopf wegschiesst. Die Mutter kommt ihm abhanden. Sie sucht in ihrer Passion für Reitpferde Vergessen und flüchtet sich in die Arme eines gewalttätigen Unternehmers.

Philip Wilhelmi spielt den Synästhetiker von Eschburg, der statt Worten Bilder sieht, als unnahbar gebrochene Figur, die nur mit Mühe Nähe zulassen kann. «Es ist anstrengend, dich zu lieben, Sebastian», sagt seine Partnerin Sofia, die Barbara Lanz mit geerdeter Selbstverständlichkeit interpretiert. «Ich fühle dich nur in deiner Kunst. Wer bist du?» Das will von Eschburg selbst herausfinden. Er nutzt die Mittel der Kunst, um eine Ermittlung gegen sich selbst in Gang zu setzen. Dem Theater Altona gelingt eine raffinierte Inszenierung, die rechtsstaatliche und künstlerischen Wahrheitsfindung ineinander verschränkt.

Psychogramm eines Mörders?

Der Mord ohne Leiche setzt das Geschehen in Gang. Das Publikum macht sich mit dem abgebrüht-humorigen und forschen Jeff Zach als Staranwalt Konrad Biegler an die Verteidigung des Fotografen. Biegler misstraut dem Angeklagten, versucht hinter dessen sphinxhaften Andeutungen zu kommen. Währenddessen scheinen sich die ebenso bildstarken wie bruchstückhaft einmontierten Rückblenden in von Eschburgs Jugend zu einem Psychogramm eines Mörders zusammenzufügen. Vermuten lässt sich vieles, beweisen nichts. Ein Trauma macht noch keinen zum Mörder. Regisseurin Hosemann lädt die Szenen innerpsychologisch auf. Bei den Erinnerungsbildern an den Vater leuchten rote und grüne Lampen. Dessen Selbstmordschuss markiert einen Riss und kehrt als Taktgeber der erinnerten Szenen wieder.

Langsam erhält von Eschburg ein Gesicht. Nach einer Lehrzeit bei einem Schwarz-Weiss-Lichtbildner hat er als Selbstständiger mit Akt- und Porträtfotografien Erfolg. Indem er Goyas Bild «Die nackte Maja», die mit ihrem auffordernd verführerischen Blick den Voyeurismus ihrer Betrachter blossstellt, fotografisch in einem pornografischen Setting reinszeniert, gelingt ihm der künstlerische Durchbruch. Dem vom Objekthaften des Körpers Besessenen ist eine verstörende Bildsprache gelungen, die Machtstrukturen zugleich inszeniert und aushebelt.

Derweil führt die Auswertung der DNA-Spuren zu von Eschburgs Halbschwester. Ist sie die Frau auf dem Foto, das die Ermittler beim Fotografen finden? Eine Rückblende zeigt einen hadernden von Eschburg. Nachdem er auf der Suche nach dem absolut Schönen Lichtbilder junger Frauen übereinandergelegt hat, erkennt er: Extrapolierte Durchschnittlichkeit kann keine höhere Wahrheit beanspruchen. Inwiefern kann Kunst trotzdem das absolut Schöne und Wahre sichtbar machen?

Künstlerischer Totschlag

Im Gerichtssaal treffen prozessuale und künstlerische Wahrheit zusammen. Anwalt Biegler zeigt auf, wie Eschbach das Gesicht der gesuchten Frau aus den Gesichtern Sofias, seiner Schwester und ihm selbst zusammengesetzt hat. Offensichtlich liegt ein künstlerisch fingierter Kriminalfall vor. Von Eschburg hat sein künstlerisches Drama vor das weltliche Gericht gebracht. Klar wird: Das Strafverfahren stellt zwar eine verbindliche Wahrheit her, damit begangenes Unrecht angemessen bestraft werden kann. Nur: Wo keine Tat ist, ist auch keine Wahrheit und keine Schuld. Der des Totschlags an einer Installation angeklagte Künstler muss freigesprochen werden.

Die Inszenierung fürs Theater legt die Vielschichtigkeit des Romans auf überzeugende und schlüssige Weise frei. Philip Wilhelmi hält seine schwierige Figur stets im Gleichgewicht und ist fast pausenlos auf der Bühne präsent. Wenn er in unbeteiligten Momenten im Strafverfahren somnambule Präsenz markiert, scheint es, als wären die Szenen aus seinem Kopf auf die Bühne herausgeworfen. Dass der Angeklagte zugleich heimlicher Regisseur des Stücks ist, ist hier glaubhaft gemacht.