Kunstturner tanzt sich frei

 

Lucas Fischer ist jetzt Musical-Darsteller – wie aus einem Albtraum ein Traum wurde.

Rock ’n’Roll, irgendwie, denkt man, wenn man Lucas Fischer sieht, wie er lässig auf dem Sofa im Café Ritazza im Bahnhof Aarau sitzt. Schwarze Jeans, schwarze Stiefeletten, John-Travolta-Jacke. Weisse Stöpsel in den Ohren, eine leere Kaffeetasse vor sich. Hier sitz kein Kunstturner. Es ist ein Sänger, Akrobat – und bald Musical-Darsteller. Einer, über den diese Woche eine Biografie erscheint. Mit 26 Jahren. Mit sanftem Händedruck, wilder Frisur, Ringen an den Fingern. Den Treffpunkt hat er selber gewählt. «Hier bin ich einfach gern», sagt er. Vielleicht, weil einem das Leben hier so deutlich zeigt, dass man es nicht pausieren kann. Züge fahren davon, wenn man nicht schnell genug ist. Aber es kommt immer auch ein nächster Zug.

Abmelden bei der Schweiz
Es waren nur 300 Meter von hier, wo sich der Turner Lucas Fischer am 15. September 2015 ein allerletztes Mal abmeldete. Diesmal nicht bei den Kampfrichtern, sondern bei der Fernsehschweiz. An einer Pressekonferenz in der Zurlinden-Villa, dem Sitz des Schweizerischen Turnverbands, beendet er seine Profikarriere. «Mit viel Bedauern und Wehmut gebe ich heute offiziell meinen Rücktritt als Spitzensportler, als leidenschaftlicher Kunstturner, bekannt», sagt er in die Mikrofone. Wendet sich ab, wischt Tränen weg. Eine Warze in der rechten Handfläche ist es am Schluss, die ihm eine Teilnahme an den Olympischen Spielen – sein ewiges Ziel – verwehrt. Fünf Fussoperationen, zwei Knieoperationen, sieben epileptische Anfälle: Immer kämpfte er sich zurück. Diese Warze aber ist zu viel. Die Schmerzen am Barren sind zu gross. Die Journalisten wollen schon zu ersten Fragen ansetzen, da holt Fischer nochmals Luft. Es kommt das, was bei einem wie ihm kommen muss: «Ich stehe wieder auf und breche auf in ein neues, spannendes Leben. Back right now. Einfach auf einer anderen Bühne. Vielen Dank.»

Wozu noch essen?
Jetzt sitzt Lucas Fischer, Lucii, wie er sich schreibt, ausgesprochen Luki, im Café Ritazza und sagt: «Es war, als würde mir ein Teil meines Herzens herausgerissen.» Er habe ja überhaupt nicht aufhören wollen. Aber er habe einfach nicht mehr können: «Wenn dein Körper nicht mitmacht, nützt alles Wollen nichts.» Rücktritt mit 25 Jahren, wenn man als Toptalent gilt, die besten Jahre noch vor sich hätte. Im nationalen Sportzentrum Magglingen muss er sein Zimmer räumen. Ende Monat wird es wieder gebraucht. Und er wird arbeitslos – angestellt war er als Kaderturner beim Bund. Was folgt, ist ein Loch. «Mein Leben war weg. Ich wusste am Morgen nicht mehr, wofür ich aufstehen sollte. Ich weiss, das tönt jetzt blöd, aber: Es war, als hätte ein Dämon von mir Besitz ergriffen. Ich kam nicht mehr aus dieser dunklen Kammer heraus.» Kollegen, die immer auf ihren Lucii verzichten mussten, weil der 30 Stunden die Woche in Magglingen trainierte, wollen für ihn da sein. Nehmen ihn mit in den Ausgang. Aber ihm ist «alles scheissegal». Er trinkt zu viel. Isst kaum mehr. Wozu auch.

Er merkt, dass man sich Sorgen um ihn macht. Eigentlich, erzählt Fischer, sei er ja ein fröhlicher, lebensbejahender Mensch. Das habe er auch in seinem neuen Leben sein wollen. «Aber ich war halt in dieser Turnerblase, und dann machte es Plopp. Ich war frei. Und das machte mir höllisch Angst.» Langsam traut er sich heraus. In die Natur, nur spazieren. Zuerst allein. Dann mit dem, was schon viele Dämonen vertrieben hat: Notizblock, Stift. «Ich hockte an der Bünz und schrieb einfach. Stundenlang.» Schritt für Schritt, Text für Text habe er wieder Kraft geschöpft, schreibt Autorin Katrin Sutter im Buch.

Allmählich realisiert Fischer: Es gibt ein Leben nach dem Turnen. Und die erste Anfrage dafür ist schon da. Noch vor dem Rücktritt hatte er für eine Abendunterhaltung im deutschen Paderborn zugesagt. Singen, Turnen, Akrobatik. Er muss proben, anständig essen. Geht zurück in die Halle, in der alles begann: Niederlenz, regionales Leistungszentrum, aufgebaut einst vom Vater. Auf der Bühne in Paderborn ist Fischer nervös wie nie. Doch der Auftritt gelingt. Standing Ovations. Und Lucii hat wieder Tränen in den Augen. Es sind Freudentränen. Back right now.

Katze auf dem Thunersee
Die Idee zur Biografie habe nicht er gehabt, sondern Autorin Katrin Sutter. Zuerst sei er auch skeptisch gewesen, mit nur 26 Jahren schon sein Leben in Buchform zu erzählen. Aber dann habe er sich gedacht: «Ich habe schon ein Leben gelebt. Jetzt beginnt ein neues. Und wenn ich mit meiner Geschichte auch nur einem Menschen helfen und Mut machen kann, hat es sich schon gelohnt.» Das Erzählen und Niederschreiben habe ihm zudem geholfen, «den Kopf von allem Ballast zu befreien». Seit zweieinhalb Jahren hatte er keinen epileptischen Anfall mehr, die Medikation ist gut eingestellt.

Heute, sagt Fischer, sei er sein eigener Trainer. «Ich kann einfach sagen: Heute gehe ich erst am Abend in die Halle. Dä Hammer!» Ganz strukturlos geht es aber nicht. Bei der Amag in Schinznach-Bad arbeitet er in einem 40-Prozent-Pensum im PR-Team für Škoda. Und seit wenigen Wochen hat Fischer wieder ein Trainingsziel: Im Sommer steht er auf der Bühne der Thunerseespiele. Im Kult-Musical «Cats» spielt er die akrobatische Rolle der «jungen wilden Katze» Tumbelbrutus. Von Mai bis September wird er in Thun wohnen, proben, auftreten. Am 12. Juli ist Premiere. Die Amag stellt ihn dafür extra frei, und im Herbst wieder ein. «Ich bin mega happy!», sagt Fischer. Er sei oft als Fan an den Thuner Premieren gewesen. «Dort aufzutreten, ist wie ein Traum, der in Erfüllung geht.» Er brauche aber noch viel Tanztraining. Müsse sich daran gewöhnen, den Körper nicht anzuspannen wie beim Turnen, sondern in einen Flow zu kommen. «Aber es chunnt scho.» Rock ’n’ Roll, irgendwie. Die Robe stimmt schon mal.