Lielle hat eine seltene Krankheit: «Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit»

Ein epileptischer Anfall gilt als lang, wenn er mehr als fünf Minuten dauert. Etwa eine halbe Stunde (oft auch länger) gehen Lielles Anfälle. Die Dreijährige ist am Dravet-Syndrom erkrankt, eine schwere neurologische Krankheit, die nur einen von 22’000 Menschen weltweit betrifft. Die Krankheit bricht meistens erst während des ersten Lebensjahres aus. «Du bekommst ein vermeintlich gesundes Kind und dann kommt plötzlich der erste Anfall», erklärt Mutter Chantal Haller. Zusammen mit ihrem Mann Stefan und ihren beiden Töchtern Alina (6) und Lielle (3) wohnt sie in Gontenschwil, umgeben von idyllischem Grün.

Kein Wunder, dass die Bewohnerinnen und Bewohner des 2000-Seelen-Dorfes erstaunt waren, als bei der Familie Haller erstmals die Polizei, die Ambulanz und ein Rettungshelikopter vor Ort waren. «Wenn Lielle einen grossen Anfall hat, kommen alle», erklärt Stefan. Der Ablauf sei bei der Familie und den Behörden schon fast Routine: «Wenn wir beim Notruf sagen, wer wir sind, wissen sie schon, dass es sich um Lielle handelt.» Dann werde alles automatisch in die Wege geleitet.

Bei ihrem ersten Anfall war das sonst fröhliche Mädchen halbseitig gelähmt. Im Spital dachten die Ärzte zuerst, es seien Fieberkrämpfe», sagt der 36-jährige Vater. Nach ihrem ersten langen Anfall bestand das Ehepaar auf einen Gentest und erhielt nach monatelangem Warten die Diagnose: Dravet-Syndrom.

Der Name Lielle kommt aus dem Hebräischen und heisst: «Gott ist bei mir».

Der Name Lielle kommt aus dem Hebräischen und heisst: «Gott ist bei mir».

Sandra Ardizzone / WYS

Alles ist besser als Ungewissheit

Zusätzlich habe man noch einen MRI-Scan gemacht, in der Hoffnung, es handle sich um eine Krankheit mit bekannten Behandlungsmethoden: «Nach der Diagnose wäre dann plötzlich alles besser gewesen», so Stefan. Beim Dravet-Syndrom habe zu Beginn niemand gewusst, worum es sich handle. «Anfangs haben wir uns mit unserem Schicksal allein gelassen gefühlt», sagt Chantal. Nach stundenlanger Recherche fand die 35-Jährige im Internet Halt und Information in Netzwerken von Betroffenen auf der ganzen Welt.

 

So ist Chantal mittlerweile mit einer Schweizer Forscherin in Kontakt, die im Kinderspital in Ohio (USA) ein Forschungslabor leitet. Die Hoffnung, dass diese Forschung zu einer Gentherapie für Lielle führt, sei für die Familie ein Lichtblick. Mit jedem Anfall kann das Mädchen Hirnschädigungen erleiden. Durch die Krankheit ist sie bereits jetzt leicht verzögert in ihrer Entwicklung. So kann sie zum Beispiel noch nicht richtig sprechen oder Treppen steigen.

Zusätzlich kann die Krankheit zu einem sogenannten SUDEP führen (sudden unexpected death in epilepsy), also zu plötzlich unerwartetem Tod im Zusammenhang mit einem epileptischen Anfall. Davon ist eines von sieben Kindern mit Dravet-Syndrom betroffen. «Für mich ist es ein Wettlauf gegen die Zeit. Ich hoffe einfach, dass es etwas gibt, bevor es zu spät ist», sagt Chantal.

Als Lielle, die mit ihren Tier-Figürchen spielt, ihre Mutter mit Tränen in den Augen sieht, läuft sie mit einem Papiertuch zu ihr, wischt ihr die Tränen weg und umarmt sie. «Sie ist sehr aufmerksam und sozial», erzählt Stefan, während Lielle mit ihrer Grossmutter das Papiertüchlein im Mülleimer entsorgt.

«Alina weiss, dass sie an zweiter Stelle kommt»

Die Familie – viele Familienmitglieder wohnen in unmittelbarer Nähe – ist für Chantal und Stefan Haller eine riesige Unterstützung. «Als Lielle lange im Spital war, ging Alina immer zu ihren Grosseltern. Andere Familienangehörige schliefen bei Lielle im Spital, damit Stefan und ich uns etwas ausruhen konnten», erzählt Chantal.

Alina habe es auch schwierig, erzählt Stefan: «Sie merkt, dass sie an zweiter Stelle kommt.» Trotzdem verstehe sich die Sechsjährige sehr gut mit ihrer kleinen Schwester. «Sie will Ärztin werden, um Lielle später einmal helfen zu können», sagt Chantal. Im Alltag sei sie aber darauf angewiesen, dass jemand anbietet, auf die Erstklässlerin aufzupassen. «Ich kann ihre Gspändli kaum einladen, weil Lielle ihre Ruhe braucht», sagt die KV-Angestellte.

Auch Urlaub komme für die Familie zurzeit nicht in Frage. «Ich will mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn Lielle einen Anfall hat, während dem wir im Flugzeug oder im Stau stehen», sagt Stefan. Glücklicherweise sei die Unterstützung innerhalb der Familie enorm. So hat Stefans Schwester Alina auch schon in die Skiferien mitgenommen.

Zudem habe Lielles Götti sämtliche Bürokratie betreffend der Invalidenversicherung (IV) übernommen. «Das war auch sensationell», ergänzt Chantal. Mir einem schwerkranken Kind habe man einfach nicht die Zeit, sich mit so viel Papierkram auseinanderzusetzen. Trotzdem hat die Familie in der Hinsicht Glück, sagt Stefan: «Die Krankheit ist IV-anerkannt. Das ist nicht selbstverständlich bei seltenen Krankheiten.» Diese Anerkennung, ein Verdienst der Dravet-Vereinigung, sei finanziell eine enorme Entlastung.

Stefans Mutter Margrith wohnt nur zwei Häuser weiter und kümmert sich oft um Lielle und Alina.

Stefans Mutter Margrith wohnt nur zwei Häuser weiter und kümmert sich oft um Lielle und Alina.

Sandra Ardizzone / WYS

Eine Diät-Pille hat ihr Leben verändert

Trotzdem sei ein vorübergehender Umzug in die USA eine Option, wie Stefan erzählt: «Wenn es in den USA eine Gentherapie gäbe, würden wir natürlich gehen.» Schon jetzt habe sich die Situation der Dreijährigen aber deutlich verbessert.

Dank einem Medikament aus einem deutschen Härtefallprogramm, bei dem sie dabei sind, hat Lielle anstatt mehrmals wöchentlich nur noch etwa ein Mal pro Monat einen langen Anfall. Ursprünglich war das Medikament eine Diät-Pille. Per Zufall habe man seine Wirkung gegen das Dravet-Syndrom entdeckt. «Dafür sind viele kleine Sturzanfälle dazugekommen», so Chantal. Ein Nebeneffekt, den die Familie in Kauf nimmt, wie Chantal erzählt: «Das Schlimmste an der Krankheit ist die Ungewissheit. Man weiss nie, wann der nächste lange Anfall kommt.» Lielles längster Anfall dauerte rund eine Stunde.

«Die Forschung ist natürlich immer abhängig von der Finanzierung», so Stefan, der als Schreiner arbeitet. Aus diesem Grund sei es auch wichtig, über die Krankheit zu sprechen. In der reformierten Kirche in Gontenschwil hat das Ehepaar deshalb Ende September die Bevölkerung über die Krankheit informiert. In der Hoffnung, sie für seltene Krankheiten zu sensibilisieren, damit sie bei Fragen mehr auf sie zukommen. «Wenn niemand die Krankheit kennt, kann natürlich auch niemand helfen», so Stefan.

Dravet-Syndrom

Dravet-Syndrom Das Dravet-Syndrom ist eine sehr seltene und schwere neurologische Krankheit. Etwa einer von 22000 Menschen ist betroffen. Die Krankheit bricht meist im Verlauf des ersten Lebensjahres aus. Bei Betroffenen kommt es zu Anfällen, die entweder eine Körperhälfte oder den ganzen Körper beeinträchtigen. Die Anfälle dauern sehr lange (oft länger als 20 Minuten). Bei Kleinkindern muss ein Anfall meist mit der Hilfe eines Notarztes unterbrochen werden. Die Anfälle verursachen bei den Kindern neurologische Schäden, weshalb die geistige Entwicklung mittel bis schwer beeinträchtig wird. Zudem kann ein plötzlicher unerwarteter Tod während jedes Anfalles geschehen. Auslöser sind unter anderem Stress oder rascher Wechsel der Umgebungs- oder Körpertemperatur. Als Ursache gilt ein genetischer Fehler. Dravet ist sehr therapieresistent. (nah)

Mehr Infos gibts unter: www.dravet.ch