Literaturtage Zofingen: «Wir wollen die Leselust anstacheln»

PROGRAMM

Donnerstag, 24. Oktober

19 Uhr in der Stadtbibliothek: Gestalten mit Bild und Text mit Bjørn Ousland und Matthias Gnehm

Freitag, 25. Oktober

18 Uhr im Rathaus: Eröffnung (öffentlich, Eintritt frei)

21.30 Uhr im Goldenen Ochsen: Poetry Slam

Samstag, 26. Oktober

Alle Veranstaltungen finden im Kunsthaus statt, mit Ausnahme des Norwegischen Abends.

10 Uhr: Einstimmen im Literaturcafé

10.30 Uhr: Referat Andrine Pollen zu norwegischer Gegenwartsliteratur

12 Uhr: Lesung Gunstein Bakke und Johan Harstad

13.30 Uhr: Lesung Ida Hegazi Høyer und Simone Lappert

15 Uhr: Podiumsgespräch zu Kinder- und Jugendliteratur

16.30 Uhr: Lesung Unni Lindell und Bjørn Ousland

18 Uhr: Zwei Vernissagen

20 Uhr im Kulturhaus West: Norwegische Soirée

Sonntag, 27. Oktober

10 Uhr: Einstimmen im Literatur Café

10.30 Uhr: Bücher signieren (alle norwegischen Autoren)

12 Uhr: Lesung Helga Flatland und Ida Hegazi Høyer

13.30 Uhr: Lesung Unni Lindell und Hansjörg Schertenleib

15 Uhr: Podiumsgespräch Literarisches Übersetzen

16.30 Uhr: Lesung Gunstein Bakke und Bjørn Ousland

17.45 Uhr: Heitere Zusammenfassung mit Hanspeter Müller-Drossaart

18 Uhr: Abschluss und Ausblick zu Kanada 2020; mit Gillian Fizet

Weitere Informationen: www.literaturtagezofingen.ch

Markus Kirchhofer, Norwegen ist ein durch sein Erdöl reich gewordenes, gesellschaftspolitisch sehr fortschrittliches Land. Welche Themen greift die norwegische Literatur auf? Inwiefern spricht sie uns damit an?

Markus Kirchhofer: Der Wohlstand ist in Norwegen sozial und regional breit abgestützt, die Gleichberechtigung der Geschlechter weit fortgeschritten. Dank des geringen sozialen Gefälles kann Transparenz gepflegt werden. Alle können beispielsweise in der «skatterlister» (Steuerliste) das Einkommen und das Vermögen aller Bürgerinnen und Bürger einsehen. Der einzelne Mensch und seine Beziehungen zu anderen Individuen rücken in einer solchen Gesellschaft automatisch stärker in den Fokus der Literatur. Dass auf Norwegens Strassen jedes Jahr über 100 Menschen sterben – in der Schweiz sind es über 200 – kann hier Ausgangslage für einen Roman sein. Gunstein Bakkes «Maud und Aud», ein Roman über Verkehr, reflektiert unser Verhältnis zu Mobilität, Verkehr und Technik mit einer höchst ungewöhnlichen technisierten Sprache und schafft damit neue Einsichten.

Norwegen erlebt den Frieden als Normalzustand. 2011 schafft Anders Breivik auf der Ferieninsel Utøya mit einem grauenhaften Amoklauf eine Zäsur in der Geschichte des Landes. Hat das Spuren in der Literatur hinterlassen?

Der Mörder von 77 Menschen stammte aus der Mitte der Gesellschaft, er war «Einer von uns». Das ist der Titel von Asne Seierstads Bestseller zum Terroranschlag. Im Nachprogramm der Literaturtage Zofingen liest Eivind Hofstad Evjemo in der Aargauer Kantonsbibliothek aus seinem neuen Roman, der ebenfalls den Anschlag von 2011 thematisiert. Mir persönlich hat imponiert, wie Norwegen mit dem Amoklauf umgegangen ist. Seierstad zitiert Ministerpräsident Stoltenberg: «Wir sind immer noch erschüttert von dem, was uns getroffen hat, aber wir werden niemals unsere Werte aufgeben. Unsere Antwort lautet mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Menschlichkeit.»

Das Programm der Literaturtage setzt neben dem Vortrag zu Norwegens aktueller Literatur, dem Übersetzergespräch und einem Podium zur Jugendliteratur auf Doppellesungen …

Die letztjährigen Doppellesungen Gastland-Gastland und Gastland-Schweiz hatten einen derart hohen Unterhaltungswert, dass wir sie nun fortführen. Weil alle Norwegerinnen und Norweger mindestens zwei Mal auftreten, kann man sie in unterschiedlichen Dialogsituationen kennenlernen. Die Moderatoren haben Gelegenheit, die Eigenart derer Werke und deren Schreibens in der Gegenüberstellung herauszuarbeiten. Mit den oft humorvollen Begegnungen wollen wir die Leselust auf norwegische Autoren anstacheln.

Ein Highlight der Literaturtage ist die Doppellesung mit der Schweizer Autorin Simone Lappert mit «Der Sprung» auf Ida Hegazi Høyer und ihren Roman «Trost».

«Trost» versetzt uns in das Bewusstsein einer Frau, die rasch Beziehungen knüpft und doch keine echte Nähe herstellen kann. «Der Sprung» stellt eine junge Naturaktivistin ins Zentrum, die sich von einem Hausdach stürzen will und dabei das Leben mehrerer Personen auf den Kopf stellt. Begleitet wird sie dabei von kaltem Voyeurismus. Beide Romane greifen ganz aktuelle Formen der Hilflosigkeit im Umgang miteinander auf. Das wird eine spannende Begegnung.

Bemerkenswert ist auch «Eine moderne Familie» von Helga Flatland über eine Familie, die sich neu orientieren muss, weil sich die Eltern im fortgeschrittenen Alter scheiden wollen. Was verbinden Flatland und Høyer?

Obwohl in Plot und Sprache ganz unterschiedlich, überzeugen beide Romane durch genaue Beobachtungen und eine poetische Sprache. Flatland weiht einen aus drei Perspektiven auf fast detektivische Art in Familiengeheimnisse ein und erzeugt erkenntnishafte Aha-Effekte. Derweil findet Høyers namenlose Hauptperson weder in Lissabon, Berlin noch in Brüssel Trost in erotischen Beziehungen. Diese Hilflosigkeit ist auszuhalten, weil sie diese mit einem ebenso präzisen wie berührenden Humor analysiert.

Der Kulturaustausch liegt Ihnen besonders am Herzen. In der Vorwoche zu den Literaturtagen sind Schüler als Polarforscher im Kunsthaus unterwegs.

Letztes Jahr ging die Kinderbuchautorin Tatia Nadareischwili auf Lesetour in Kindergärten. Dieses Jahr kommen die Schüler mit ihren Lehrpersonen ins Kunsthaus Zofingen. Hier stellt Björn Ousland sein Buch «Reise ins ewige Eis – wie werde ich Polarforscher» vor. Danach gestalten die Kinder unter Anleitung der Kunstvermittlung eigene Polarlandschaften. Am Samstagabend ist Vernissage dazu.

Identität liegt zu einem guten Teil in der Sprache. Das Übersetzerpodium lässt deshalb jedes Mal tief blicken. Was sind spezifische Eigenheiten des Norwegischen?

Das Norwegische gehört zu den nordgermanischen Sprachen und hat zwei Standardvarietäten: Bokmål und Nynorsk. Beide sind sie in ihrem Ursprung von Plattdeutsch geprägt, weshalb wir manche Sätze einigermassen verstehen können. Später kamen viele dänische Einflüsse hinzu. Es gibt Vokale, die wir kaum aussprechen können. Ich bin selber gespannt, wo die Übersetzerinnen und Übersetzer mit Hürden zwischen Norwegisch und Deutsch zu kämpfen haben und wie sie sie überwinden.

Auf welchen Anlass freuen Sie sich ganz besonders?

Ich freue mich auf jeden einzelnen Programmpunkt. Wenn ich neben den sechs Doppellesungen je einen Anlass pro Tag auswählen müsste, wäre das am Freitag der Poetry Slam der Kanti im «Ochsen», am Samstag das Podiumsgespräch zur Kinder- und Jugendliteratur («Vorbild Norwegen?») und am Sonntag der ebenso heitere wie kluge Abschluss mit Hanspeter Müller-Drossaart und der Ausblick von Gillian Fizet, der Direktorin von «Canada FBM2020».