
Marianne Binder: «Frau sein allein ist noch kein Programm»
Das Café Himmel ist gut besetzt. Draussen bläst der Herbstwind. Es zieht die Menschen in die Wärme. Marianne Binder hat das Badener Traditionscafé für das Treffen vorgeschlagen. Der Name Binder ist in Baden mindestens so bekannt wie der «Himmel». Vielleicht ist die jüngste Geschichte des Cafés ein gutes Omen.
Es konnte in letzter Sekunde vor dem Konkurs gerettet werden und läuft jetzt gut. Ob das für Binder im zweiten Wahlgang um einen Sitz im Ständerat auch gilt? Dass die Präsidentin der CVP Aargau noch einmal antritt, obwohl sie im ersten Wahlgang auf dem fünften Platz hinter Ruth Müri (Grüne) landete, sorgt hier und dort für Stirnrunzeln.
Ein Leserbriefschreiber findet, man müsse kein Hellseher sein, um zu sehen, dass Ihre Chancen im zweiten Wahlgang gleich null seien. Ich nehme an, das sehen Sie anders.
Marianne Binder: Erstens habe nicht ich, sondern meine Partei den Entscheid gefällt, im zweiten Wahlgang anzutreten. Zweitens haben wir schon vor einem Jahr gesagt, dass sich unsere Chance erst im zweiten Wahlgang eröffnet. Der erste Wahlgang ist eine Auslegeordnung der politischen Lager. Der zweite Wahlgang hingegen ist dann der Beweis dafür, wie mehrheitsfähig jemand über die politischen Lager hinaus ist.
Und hier sehen Sie Ihre Chance?
Die Panaschierstatistik zeigt, dass ich weit über die politischen Lager und die Partei hinaus Mehrheiten finde. Ausserdem geht es im Aargau immer noch um zwei Sitze. Die Wählerinnen und Wähler können also zwei Namen auf den Wahlzettel schreiben. Die Erfahrung zeigt, dass sie das auch tun.
Möglichst viele Zweitstimmen zu holen, das war im ersten Wahlgang die Strategie des GLP-Kandidaten Beat Flach. Bei ihm ist sie nicht aufgegangen.
Im zweiten Wahlgang sind es nur noch vier Kandidierende. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass Wählerinnen und Wähler ihren Wunschkandidaten oder ihre Wunschkandidatin und eine zweite Person aufschreiben. Als inzwischen einzige Kandidatin des politischen Zentrums habe ich hier Potenzial.
Proporzwahlen sind anders als Majorzwahlen. Da ist das Profil einer staatstragenden Partei wie der CVP ein Vorteil. Mein Vimentis-Spider bildet das ab. Im Ständerat sind wir die grösste Gruppe.
Ist es nicht das Problem der CVP, dass sie im Gegensatz zu den Polparteien zu leise auftritt?
Die Mitte ist nicht einfach der Kompromiss, den Links und Rechts ausgehandelt haben. Im Aargau hat die CVP wichtige Akzente setzen können. Beispielsweise ein massvolles Kinderbetreuungsgesetz oder auch die Standesinitiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe bei den Steuern und der AHV.
Der Nationalrat hat die Standesinitiative durchgewinkt. Nun liegt es am Ständerat. Offensichtlich werden wir wahrgenommen und gehört. Das hat sich auch bei den Wahlen gezeigt. Wir konnten allen Prognosen zum Trotz zulegen und haben einen zweiten Sitz geholt. Ich schrecke bekanntlich auch nicht davor zurück, heikle Themen anzusprechen.
Zum Beispiel das Rentenalter. An einem Podium mit den Ständeratskandidierenden im September haben Sie Rentenalter 67 für Männer und Frauen ins Spiel gebracht. Damit holen Sie links keine Sympathiepunkte.
Wir haben doch alle das gleiche Interesse, nämlich dass unsere Kinder und deren Kinder auch noch ein gesichertes Alter haben. Meine Generation, die Babyboomer, wird ein höheres Rentenalter sowieso nicht mehr betreffen, umso mehr sind wir doch in der Verantwortung, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Unsere Enkelkinder haben gute Chancen, 100 Jahre alt zu werden. Diese Lebenserwartung steht in keinem Verhältnis zum heutigen Rentenalter.
Und Ihre Lösung ist, dass alle immer länger arbeiten?
Nein. Nicht alle. Es muss zumutbar sein. Menschen beispielsweise, die ihr ganzes Berufsleben auf dem Bau gearbeitet haben, müssen sicher früher in Rente gehen können. Und ohne gute Konzepte, ältere Fachkräfte besser im Arbeitsprozess zu behalten, funktioniert es sowieso nicht.
Es ist ein Widersinn, wenn die Wirtschaft einerseits über den Fachkräftemangel klagt und gleichzeitig ältere, hochqualifizierte Arbeitskräfte entlässt, weil sie zu teuer sind. In diesem Punkt stehen Politik und Wirtschaft in der Verantwortung.
Würden Sie denn gerne noch ein paar Jahre länger arbeiten?
Ich selbst arbeite gerne. Ja.
Zurück zum ersten Wahlgang. Sie haben 36 700 Stimmen geholt. Das sind weniger als Ruth Müri (Grüne) und nur halb so viele wie der zweitplatzierte Hansjörg Knecht (SVP). Wie wollen Sie diesen riesigen Rückstand im zweiten Wahlgang aufholen?
Im zweiten Wahlgang werden die Karten neu verteilt. Mein Resultat ist etwa so ausgefallen, wie wir es erwartet haben. Ich habe doch sehr stark über meine eigene Partei hinaus mobilisiert. Zumindest waren es mehr Stimmen als vor vier oder acht Jahren.
Ruth Müri und Sie verbindet, dass Sie beide noch nie in Bern politisiert haben. Ein Nachteil?
Ich habe acht Jahre die Kommunikation der CVP Schweiz und der Bundeshausfraktion geleitet, kenne die Abläufe, das Bundeshaus und bin in Bern sehr gut vernetzt. Dazu bin ich Mitglied des nationalen CVP-Präsidiums.
Auch wenn ich nie in einem der beiden Räte Einsitz hatte, habe ich eine sehr gute Innensicht auf die beiden Räte und gleichzeitig genug Aussensicht, um ihre Arbeitsweise zu beobachten. Ich finde, der Ständerat sollte sich mehr auf den Nationalrat einlassen. Er führt oft zu sehr ein Eigenleben. Das ist ein Anliegen, das ich gerne einbringen werde.
Sind Sie mehrheitsfähiger als Ruth Müri?
Solche Beurteilungen anderer Kandidierender verklemme ich mir. Das entscheidet das Volk an der Urne. Unsere Strategie ist es, nicht zu verhindern, sondern zu gewinnen. Ich führe keinen Wahlkampf gegen Personen, sondern einen mit Inhalten und Positionen. Ich sage beispielsweise klipp und klar, dass die Kündigungsinitiative der SVP für mich ein No-Go ist. Die bilateralen Verträge und der bilaterale Weg der Schweiz mit der EU sind für mich zentral.
Bei den Nationalratswahlen hatte die CVP eine Listenverbindung mit der GLP. Wie sehr schmerzt es, dass die GLP für den Ständerat nun Ruth Müri empfiehlt?
Auch darüber zu urteilen, steht mir nicht zu. Ich habe jedoch viele persönliche Rückmeldungen von Grünliberalen, die mich im zweiten Wahlgang unterstützen und das auch öffentlich sagen. Wie gesagt: Es gibt zwei Linien auf dem Wahlzettel.
Die CVP geht bei der Ständeratswahl keinen Pakt mit einer anderen Partei ein.
Nein. Wir konzentrieren uns auf die eigene Kandidatur. Das heisst aber nicht, dass sich ausserhalb der Parteien keine Bewegungen bilden werden. Ich gehe zum Beispiel davon aus, dass die Frauenorganisationen alle Frauen empfehlen.
Apropos Frauen: In einem Leserbrief wird Ihnen vorgeworfen, Sie nähmen Ruth Müri Stimmen weg und seien damit eine Frauenverhinderin und Steigbügelhalterin für Hansjörg Knecht.
Interessant, dass man jetzt die Frauen gegeneinander ausspielt. Das Gleiche könnte man ja von Ruth Müri sagen. Oder von den Männern. Ich sehe jedoch die Logik nicht. Es sind ja zwei Linien, die man füllen kann. Die Wählerinnen und Wähler können beide Frauen aufschreiben, wenn sie möchten.
Es wird sich zeigen, wer mehr Stimmen macht über die Parteigrenzen hinaus. Am Schluss geht es aber auch noch um die politische Positionierung. Frau sein allein ist kein Programm.
Sie betonen regelmässig, dass Sie sich für Frauen einsetzen, seit Sie politisch aktiv sind. Trotzdem wird der Kampf für mehr Gleichstellung eher den linken Parteien zugeordnet.
Ich muss mich als bürgerliche Frau nicht verstecken, wenn es um Gleichstellung geht. Ich lege teilweise einfach auch einen anderen Fokus als im Manifest zum Frauenstreik. Mich beschäftigen auch die Rechte von Frauen in Parallelgesellschaften.
Die Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbsleben mit besseren Betreuungsstrukturen ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Dazu gehört aber auch eine Aufwertung der Familienarbeit selbst. In diesem Bereich werden 6,5 Milliarden Arbeitsstunden pro Jahr geleistet. Für die Volkswirtschaft und die Gesellschaft ist das unersetzlich.
Was halten Sie von einer Frauenquote?
Seit je versuche ich, Frauen zu überzeugen, zu politisieren. Gegenüber Frauenquoten bin ich aber kritisch, weil ich überzeugt bin, dass wir Frauen alles, was wir schaffen wollen, alleine schaffen. Eine Frauenquote ist immer auch eine Männerquote. Das kann auch für die Frauen zum Bumerang werden.
Elternzeit steht auf Ihrer Prioritätenliste nicht zuoberst.
Das Parlament hat einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub gutgeheissen. Diese Lösung geht auf einen Vorstoss meines Parteikollegen Martin Candinas zurück. Ein CVP-Kompromiss, der ja auch für KMU zumutbar sein muss.
Für sie könnte eine längere Elternzeit zum Problem werden. Ich glaube auch nicht, dass ein Vaterschaftsurlaub alle Probleme der Vereinbarkeit löst. Es braucht neue Arbeitsmodelle, mehr Teilzeitarbeitsmöglichkeiten oder mehr Homeoffice.
Wie soll das gehen? Zu Hause arbeiten und gleichzeitig die Kinder betreuen?
Homeoffice ist eine gute Lösung, wenn die Kinder älter sind und bereits zur Schule gehen. So können sich die Eltern am Mittag um die Kinder kümmern. Die Stundenpläne sind einfach nicht zeitgemäss. Das ist das eigentliche Problem. Andere Länder sind da weiter, weil sie das Modell Tagesschule kennen.
Neben der Gleichstellung war das Klima ein wichtiges Thema im Wahlkampf. Der CVP fehlt das «Grün» im Namen. Ein Nachteil?
Wer «Grün» im Namen hat, hat sicher einen Vorteil. Trotzdem haben wir bei den Wahlen zugelegt und im Aargau einen zweiten Nationalratssitz geholt. Die CVP musste sich in der Klimadiskussion nicht verbiegen.
Der Umweltartikel in der Bundesverfassung geht auf eine Motion aus den Reihen der Aargauer CVP zurück. Da waren die Grünen noch gar nicht geboren.
Die CVP Aargau ist bei den Nationalratswahlen mit acht Unterlisten und über 120 Kandidierenden angetreten. Hat sich auch diese Strategie im Resultat niedergeschlagen?
Die vielen Kandidierenden haben sicher mobilisiert. Wir haben viele Neuwählerinnen und -wähler gewinnen können. Die Strategie hat uns auch für die Grossratswahlen nächstes Jahr geholfen. Viele der Kandidierenden auf den Unterlisten würden gerne für den Grossen Rat kandidieren oder in der Partei Verantwortung übernehmen.
Was bringt das für den Ständerat?
Rückenwind.
Werden Sie Parteipräsidentin bleiben, auch wenn Sie bald in Bern politisieren?
Das habe ich meiner Partei eigentlich versprochen. Wir haben gemeinsam die Trendwende geschafft, und das gibt mir natürlich Mut für die Wahlen im nächsten Jahr.
Also bleiben Sie Präsidentin bis nach den Grossratswahlen?
Vielleicht auch länger. Das muss meine Partei entscheiden. Aber es hat natürlich Leute, die das noch besser machen würden.