Marlen Reusser holt Silber im Zeitfahren – der unheimliche Aufstieg der Aktivistin, Ärztin und Rebellin an die Weltspitze

Der Schweizer Medaillenregen geht weiter. Marlen Reusser gewinnt im Zeitfahren der Frauen Silber, Gold geht an die Holländerin Annemiek van Vleuten, Bronze an deren Landsfrau Anna Van der Breggen. Es ist bereits die sechste Schweizer Medaille bei den Olympischen Spielen in Tokio, die fünfte im Radsport, die vierte einer Frau innerhalb von 24 Stunden nach dem Dreifach-Triumph im Mountainbike durch Jolanda Neff, Sina Frei und Linda Indergand. Bereits im ersten Wettbewerb hatte Schützin Nina Christen Bronze geholt, Mountainbiker Mathias Flückiger gewann Silber.

Bei der ersten Zwischenzeit nach 9,7 Kilometern auf der 22 Kilometer langen Strecke war Reusser auf dem vierten Rang gelegen. Nach einer Abfahrt, die sie als Quereinsteigerin mit technischen Defiziten gefürchtet hatte, lag sie im fünften Zwischenrang – 14 Sekunden hinter Silber und 13 Sekunden hinter Bronze. Auf dem letzten, überwiegend flachen Abschnitt über 7 Kilometer machte Reusser diese Hypothek gut und erreichte mit 56 Sekunden Rückstand auf die Olympia-Siegerin van Vleuten Silber. Die Holländerin hatte im Strassenrennen Silber geholt, war aber bei der Zieldurchfahrt davon ausgegangen, dass sie Gold gewonnen hat.

Marlen Reusser sagt:

«Erst im letzten Jahr habe ich begonnen, an eine Medaille zu glauben. Doch als ich den Kurs hier zum ersten Mal gesehen habe, verlor ich diesen schnell wieder. Ich dachte: Oh! Mein! Gott! Dafür ging ich entspannt an den Start.»
Die Schweizer Radsport-Equipe posiert mit Marlen Reusser auf der Motorsportstrecke in Ojama am Fusse des Bergs Fuji.

Die Schweizer Radsport-Equipe posiert mit Marlen Reusser auf der Motorsportstrecke in Ojama am Fusse des Bergs Fuji.

Laurent Gillieron / KEYSTONE

Ärztin, Politikerin und Quereinsteigerin im Radsport

Marlen Reusser gilt im Radsport vielen als Exotin und Rebellin. 2017 löste sie ihre erste Radsport-Lizenz – und gewann im gleichen Jahr ihren ersten nationalen Titel. Noch zwei Jahre lang arbeitete sie parallel zum Sport als Assistenzärztin, bis sie sich im Jahr 2019 für den Profisport entschied, und auf den elterlichen Bauernhof in Hindelbank im Emmental zurückzog, um Geld zu sparen. In jenem Jahr gewann die mittlerweile 29-Jährige das Zeitfahren an den Europaspielen in Weissrussland, ein Jahr später wurde sie im Zeitfahren auf der Rennstrecke von Imola WM-Zweite – ebenfalls im Zeitfahren. Seither hält die Quereinsteigerin den internationalen Radsport in Atem.

Auf dem letzten Streckenabschnitt verbessert sich Reusser vom fünften Zwischenrang auf den Silber-Platz.

Auf dem letzten Streckenabschnitt verbessert sich Reusser vom fünften Zwischenrang auf den Silber-Platz.

Christopher Jue / EPA

Wegen ihrer abgemagerten Teamkollegin schickte Marlen Reusser Briefe an verschiedene Verantwortliche im Radweltverband UCI. Sie plädiert für eine Untergrenze beim Body-Mass-Index BMI. Wer diesen unterschreite müsse zum detaillierten Gesundheitscheck und mit einer Sperre rechnen. Im April kritisierte sie, dass die Weltmeisterschaften auf der Bahn in Turkmenistan stattfinden sollten und warf dem Präsidenten der UCI, David Lappartient, in der NZZ ein «beinahe mafiöses Verhalten» vor. Auch der Klimawandel treibt sie um. Als junge Erwachsene war sie Präsidentin der Jungen Grünen im Kanton Bern und kandidierte für den Nationalrat.

Reusser verschenkt ihre Medaille

In der Vorbereitung auf ihre ersten Olympischen Spiele überliess Marlen Reusser nichts dem Zufall. Um ihre Position auf dem Rad zu verbessern, reiste sie für Tests in einem Windkanal mehrfach nach Norditalien. An der Entwicklung ihres Rads war ein Formel-1-Ingenieur des früheren Sauber-Teams beteiligt. Reusser sagte: «Noch nie hatte ich ein technisch so hohes Niveau.» Ihr Dank gilt Nationaltrainer Edi Telser und Fahrradmechaniker Cédric Stähli. Sie haben mitgeholfen, aus der Ärztin, Aktivistin, Rebellin und Quereinsteigerin eine Medaillengewinnerin in Tokio zu machen.

Behalten wird Reusser ihre Silbermedaille nicht. Sie sagt: «Ich bin nicht mehr 15, sondern fast 30. Da muss ich nicht mehr anfangen, Medaillen zu sammeln. Deshalb schenke ich sie meinem Nationaltrainer, Edi Telser. Er hat so viel für uns gemacht. Dieser Mann hat eine Medaille verdient.»

Trotzdem hat sie noch viel vor. Marlen Reusser sagt: «Ich habe ein mega spannendes Leben. Wir haben alle sehr schnell begriffen, dass ich einen riesen Motor habe. Das lässt mich zuversichtlich in die Zukunft blicken. Wenn alles stimmt, kann ich irgendwann in der Mitte stehen.» Ganz oben auf dem Podest. Vielleicht schon in diesem Herbst: am 20. September an der Strassen-WM in Flandern. Dann feiert Reusser ihren 30. Geburtstag.