
Mill, Voltaire und die Freiheit
Im Schweizer Blätterwald spriesst seit jeher eine ausgeprägte Leserbrief-Kultur. Immer wieder geben Leserbriefe zum Stirnrunzeln und Nachfragen Anlass – auch bei uns. Warum wir denn diese oder jene Zuschrift überhaupt publiziert hätten – die Argumente seien hanebüchen, die Kritik überzogen und reine Polemik. Da müsse doch eingegriffen werden!
Eben gerade nicht. Wenn man ein paar Schritte zurückmacht, wird man einräumen müssen, dass das oberste Prinzip, an die sich Medien in einem demokratischen Bürgerstaat halten sollen, die Verteidigung der frei geäusserten Meinung sein muss. Kaum einer begründet das besser als der grosse Freiheitsdenker John Stuart Mill, dessen Werk «On Liberty» von 1859 uneingeschränkte Aktualität besitzt. Tragfähige Lösungen, so Mill sinngemäss, findet eine Gesellschaft nur im dialektischen Prozess der freien Diskussion. In dieser Diskussion darf keine Meinung unterdrückt werden – Schranken gibt es, klar, unflätige, beleidigende Angriffe auf Personen zum Beispiel. Aber für Meinungen, die sich überspitzt, polemisch, ja falsch in einer Sache äussern, sollen diese Schranken nicht gelten. Selbst wenn man sicher sei, dass man es mit einer falschen Meinung zu tun habe, wäre die Unterdrückung immer noch ein Übel, so Mill. Diskussionsfreiheit schmerzt also, das muss man aushalten; ihr Ziel ist die Annäherung an die Wahrheit – ein Prozess, der niemals zum Stillstand kommen kann. Dass die Grenzen der Meinungsfreiheit immer neu ausgelotet werden müssen, gehört zu ihrem Wesen – ebenso wie die subtilen Angriffe darauf. Etwa so: Publizisten oder Journalisten sind «Schreiberlinge», die sich zu einem angeblichen Mainstream-Kartell zusammengeschlossen haben, das linken Meinungsterror betreibt. Von der gebetsmühlenartigen Wiederholung dieses verschwörungstheoretischen Narratives sollte man sich nicht beeindrucken lassen. Es zielt darauf ab, manche Meinungen als illegitim zu brandmarken und auszugrenzen. Es stimmt eben im Kern absolut, was Voltaire – sinngemäss zitiert – zu den freien Gedanken gesagt hat: «Ich verachte Ihre Meinung, aber ich würde alles dafür tun, dass sie diese äussern können.»