Mirjam Schlesinger: «Die Leute wissen zu wenig über Autismus»

Frau Schlesinger, was ist Autismus genau?

Mirjam Schlesinger: Autismus ist eine andere Art zu denken und zu fühlen. Eine andere Wahrnehmung der Umwelt und von sich selbst.

Das heisst, Sie bezeichnen Autismus nicht als Krankheit?

Nein. Autisten sind krank, wenn sie an Grippe leiden. Oder sie sind psychisch krank, wenn sie ein Burnout oder eine Psychose haben. Das sind aber zusätzliche Störungsbilder.

Sie sprechen psychische Belastungen an. Sind denn Autisten besonders davon betroffen?

Autisten sind dann anfällig für psychische Krankheiten, wenn der Stress und der Druck von der Umwelt zu gross wird. Wenn zu viele Anforderungen auf einmal kommen. Wenn sich die Lebensumstände dahingehend ändern, dass zu wenig Rückzugsmöglichkeiten bestehen, zum Beispiel, wenn ein Autist eine Familie gründet. Dann wird ihm durch den sozialen Stress oft alles zu viel.

Ist ein Autist überhaupt dazu in der Lage, eine romantische Beziehung zu führen und eine Familie zu gründen?

Ja, das ist er. Aber wenn wir davon ausgehen, dass die Wahrnehmung zum Gegenüber und zu sich selbst eine völlig andere ist als bei einem Nicht-Autisten, dann nimmt ein Autist auch das Gefühl und die Bedeutung von Liebe und Nähe anders wahr. Ein Betroffener ist durchaus in der Lage, sich zu verlieben. Aber längst nicht alle wollen eine Beziehung leben.

Man sagt, dass Autisten Ironie und Sarkasmus schlecht verstehen. Warum?

Die Kommunikation ist eines der Hauptprobleme von Autisten. Sie definieren Sprache nur über Worte und nicht über Mimik, Körpersprache und Intonation. Besonders in der deutschen Sprache haben viele Wörter eine Doppelbedeutung. Eine buchstäbliche und eine übertragene. Autisten verstehen meist zuerst die buchstäbliche Bedeutung einer Aussage. Und das führt immer wieder zu grossen Miss- und Unverständnissen.

Wenn ich im Alltag mit einem Autisten zu tun habe, muss ich mich dann bei meinem Verhalten auf etwas Besonderes achten?

Grundsätzlich sollte man Autisten so normal wie möglich behandeln. Aber gerade in der Kommunikation ist es wichtig, dass man klare und eindeutige Wörter braucht. Und wenn Sie merken, dass die Person Sie nicht versteht, dann erklären Sie ihr, wie Sie es gemeint haben. Ein autistisches Kind kann auf die Aufforderung «Mach dein Bett!» durchaus antworten: «Aber ich bin doch kein Schreiner.»

Autisten sagt man ja nach, dass sie jeweils eine extrem starke Inselbegabung haben.

Inselbegabungen gibt es zwar, sie sind aber vor allem ein Klischee. Von 100 Autisten haben vielleicht drei solche Begabungen. Öfter kommt es hingegen vor, dass Autisten ein sogenanntes Spezialinteresse haben. Das bedeutet, dass sie ein Thema besonders interessiert und sie sich durch ihre Detailfokussiertheit viel Wissen darüber aneignen. So kommt es beispielsweise vor, dass Kinder am Scheinwerfer eines Fahrzeugs die Automarke erkennen können.

Das Spezialinteresse der schwedischen Schülerin Greta Thunberg ist beispielsweise die Umwelt.

Genau. Sie kämpft mit allem was sie darüber weiss für ihr Thema.

Sie haben selbst eine Tochter mit Autismus. Sollte man mit einem betroffenen Kind darüber reden?

Die meisten Kinder werden erst im Kindergarten oder der Schule richtig auffällig, wenn die sozialen Anforderungen zu hoch werden. Man sollte auf keinen Fall einem Kind sagen, es sei autistisch, wenn man keine Diagnose hat. Es wäre wichtig, viel früher verbindliche Diagnosen zu bekommen. Sobald man eine Diagnose hat, braucht es meiner Meinung nach Schulungen für das Kind, die Eltern und das Umfeld. Man soll das Kind offen und einfach darüber aufklären.

Sind Sie der Meinung, dass die Menschen viel zu wenig über Autismus aufgeklärt sind?

Definitiv. Wir sehen immer wieder Filme und Serien, in denen Autisten als Sonderlinge dargestellt und viele Klischees bedient werden. Das ist oft aber weit weg von der Alltagsrealität. Die Bevölkerung hat ein völlig falsches Bild von Autismus. Je mehr die Menschen über Autismus wüssten, desto einfacher wäre es für uns alle. Ich habe als Mutter selbst erlebt, wie es ist, verurteilt zu werden, weil man mir eine schlechte Erziehung meiner Tochter vorwarf. Dabei hat Autismus nichts mit Ungezogenheit zu tun.

Sie referieren am Mittwoch in Rothrist zum Thema Autismus. Was ist Ihr Zielpublikum?

Ich hoffe, dass möglichst viele Lehrpersonen und Schulpsychologen erscheinen. Aber auch Arbeitgeber und Ausbildner von Lehrlingen sowie Eltern und sonstige Interessierte können davon profitieren.

Und an wen können sich Autisten aus der Region Zofingen selbst wenden, wenn sie Hilfe benötigen?

Das ist leider ein grosses Problem. Wir haben in Zofingen eine Gruppe für Eltern autistischer Kinder. Autisten selbst bräuchten vor allem Schulungen in Form von Sozialtrainings. Da es aber viel zu wenige Fachleute im Bereich Autismus gibt, kommen wir mit unserer Arbeit bei weitem nicht nach. Autisten haben leider kaum Möglichkeiten, sich bezahlbare Hilfe zu holen. Viel mehr Fachleute müssten sich auf Autismus-Beratung spezialisieren.

 

Autismus – «ich bin, wie ich bin» Referat von Mirjam Schlesinger, Mittwoch, 13. März, 19.30 Uhr im Pflegezentrum Luegenacher Rothrist.

Zur Person

Mirjam Schlesinger lebt in Riken und ist gelernte Konstrukteurin und Werkzeugmacherin. Nach der Autismusdiagnose ihrer Tochter liess sie sich zur Fachberaterin für Autismus ausbilden, da sie eine berufliche Beschäftigung suchte, welche sich mit der Betreuung ihrer Tochter vereinbaren liess. 2011 war Schlesinger Mitbegründerin der Eltern-Selbsthilfegruppe Autismus Zofingen, welche sie bis 2017 leitete. Von 2013 bis 2017 war sie ausserdem Vorstandsmitglied im Verein Asperger-Hilfe Nordwestschweiz. Mit der Schlesinger Beratungen GmbH coacht sie unter anderem Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oder deren Angehörige.

 

Hier finden Sie Unterstützung

Autismus Elterngruppe Zofingen/Olten

Die Autismus Elterngruppe Zofingen/Olten trifft sich einmal monatlich in Zofingen. Sie richtet sich an Eltern von Kindern mit Autismus zwischen 0 und 18 Jahren. Dabei geht es darum, Erfahrungen auszutauschen und über autismus-spezifische Themen zu diskutieren. Ausserdem erhalten die Teilnehmenden Fachinputs von einem Autismus-Coach und Tipps im Umgang mit der Invalidenversicherung (IV), dem Schulpsychologischen Dienst (SPD) und dem Kinder- und Jungendpsychiatrischen Dienst (KJPD). Interessierte können für weitere Informationen die Kontaktstelle Selbsthilfe Kanton Solothurn kontaktieren: 062 296 93 91, info@selbsthilfesolothurn.ch.

 

Asperger-Hilfe Nordwestschweiz

Der Verein Asperger-Hilfe Nordwestschweiz setzt sich für die Interessen von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) sowie ihren Angehörigen ein und fördert das Verständnis für diese Menschen in der Öffentlichkeit, beispielsweise durch Infoveranstaltungen. Mehr Informationen unter www.aspergerhilfe.ch

Für Eltern von Kindern mit Autismus und für Diagnosen steht ausserdem die Interdisziplinäre Autismusberatungsstelle IAS der Psychiatrischen Dienste des Kantons Aargau zur Verfügung.