
«Mütter und Väter dürfen Fehler machen»
Wie wurden Sie erzogen?
Cornelia Kazis: Unserer Mutter hat uns sehr frei und autonom erzogen. Meine Kindheit als Mittlere von Dreien war unbeschwert. Ich habe meine Kindheit sehr genossen und blicke gerne zurück. So habe ich vieles in der Erziehung meiner mittlerweile erwachsenen Tochter ähnlich oder gleich gemacht.
Was haben Sie in der Erziehung falsch gemacht?
Ich habe bestimmt sehr viele Fehler im Kleinen gemacht, indem ich falsch, überreizt oder überängstlich reagiert habe. Ich fand die Pubertät eine sehr schwierige Phase und habe da wahrscheinlich immer wieder unzulänglich reagiert. Das hat meine Tochter jedoch nicht daran gehindert, eine selbstbewusste und eigenständige Frau zu werden. Sie ist inzwischen 35 und hat mich zur zweifachen Grossmutter gemacht. Wunderbar finde ich, dass sie mir ihre Kinder vertrauensvoll in meine Obhut gibt. Wir haben viele Gespräche über Erziehung und unter anderem ist Gewaltfreiheit ein gemeinsames Ziel.
Als Werte halten Sie aber auch Selbstständigkeit, Mitgefühl, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Achtung und die Liebesfähigkeit hoch. Was verstehen Sie unter Liebesfähigkeit?
Heutzutage finde ich es wichtig, dass die Liebe an keine Bedingungen geknüpft ist. Liebe gegen Leistung finde ich verheerend. Für mich bedeutet wahrhafte Liebe zwischen Eltern und Kindern, sich anzunehmen, zu respektieren und zu akzeptieren, wie man ist. Es ist ein Stück weit Unbedingtheit. Solche Liebe durfte ich als Kind erfahren.
Erinnern Sie sich noch an eine Situation?
Ich war Linkshänderin und wurde umgeschult, das war in den 1950er Jahren üblich. Mein Vater konnte als Typograf und Grafiker wunderschön schreiben. Als Vaterkind war ich von mir selber sehr enttäuscht, weil ich so schlecht in einem Bereich war, der meinem Vater so wichtig war. Doch mein Vater hat die Note nur angeschaut, eine Musik aufgelegt, die uns beiden gefiel, und ich durfte auf seinen Füssen mit ihm dazu tanzen. Das meine ich mit unbedingter Liebe. Das heisst nicht, du bist ein tolles, liebes Kind, weil du etwas besonders gut kannst, sondern, du bist wunderbar, weil es dich gibt und weil du so bist, wie du bist. Das ist eine Qualität, die heutige Eltern im Fokus behalten müssen, weil sie selber in engmaschigen Leistungsrastern eingebunden sind und die Versuchung gross ist, aus seinem Kind auch ein Leistungsprodukt zu machen.
Eltern sollen sich also bewusst gegen die Leistungsgesellschaft wenden.
Unbedingt – und vor allem sich Zeit lassen sowie in die Entwicklung vertrauen. Vertrauen ist wichtig in der Erziehung. Es gilt aber auch, darauf zu vertrauen, dass Umwege sinnvoll sind, weil sie Ortskenntnisse erhöhen. Es geht zudem darum, das Scheitern als Lernmöglichkeit zu sehen. Im Leben ist nicht alles stromlinienförmig, berechen- und kontrollierbar. Aber gerade deshalb ist das Leben geheimnisvoll und wunderbar.
Doch die Perfektionismus-Falle lauert.
Mir hat der Satz des britischen Kinderarztes und Begründers der Kinderpsychotherapie, Donald Winnicott, sehr geholfen. Er prägte den Begriff «good enough mother», also im Sinn es genügt eine «hinreichend gute Mutter» zu sein. Ich finde, dass Mütter und Väter liebevoll und aufmerksam sein sollten und Fehler machen dürfen. Unfehlbare Erwachsene wirken auf Kinder bedrohlich, denn sie geben sich selber keine Erlaubnis, nicht perfekt zu sein. Sich und andere mit einem grosszügigeren Blick zu betrachten, ist wichtig. Heute wird nicht nur in unterhaltsamen TV-Shows, sondern überall immer mehr bewertet. Dabei geht es in erster Linie darum, Kinder und Erwachsene einfach als Wesen und nicht als Leistungsträger wahrzunehmen.
Ein Rezept für ein gelingendes Leben? Dies hat niemand und so weiss auch niemand genau, wie sich jemand entwickelt (lacht). Vorteile hat aber bestimmt, wer als Kind geliebt, gefordert und gefördert wurde und Freiraum geniessen durfte. Deshalb liegt mir das freie Spiel am Herzen. Heute sind Freizeitbeschäftigungen sehr konfektioniert und überplant im Sinn von man geht dorthin und macht dann nur das. Dabei verschwindet das Gut der Langeweile und was aus ihr entsteht. Es ist faszinierend, wie kreativ Kinder sind, wenn ihnen nichts zur Verfügung steht. Eltern müssen gar nicht ständig etwas organisieren, sondern Verantwortlichkeit in Form von Selbstständigkeit dem Kind zurückgeben, aber es dabei nicht alleinlassen.
Wie geht das?
Langweilt sich ein Kind, dann kann man ihm sagen: «Mal sehen, was du in 20 Minuten machst.» Nach dieser Zeit geht man dann nachsehen und wird überrascht sein. Vielleicht hat es angefangen zu zeichnen. Oder es macht seinen eben gebauten Turm kaputt. Es kann auch sein, dass es auf dem Bett sitzt und nichts macht. Auf jeden Fall brauchen Kinder kein permanentes Programm. Dies erzieht Kinder nur zu einem Konsumverhalten, das nicht sinnvoll ist und sie von sich selber wegbringt.
Heute Mittwoch, 19.30 Uhr, Vortrag von Cornelia Kazis «Vom Wert der Werte – worauf es in der Erziehung wirklich ankommt» in der Aula des Gemeindeschulhauses Zofingen.
Cornelia Kazis: Nach ihrem Studium arbeitet Cornelia Kazis acht Jahre als Primarlehrerin und danach dreissig Jahre als Fachredaktorin für Erziehungs- und Bildungsfragen. Die 66-Jährige ist Autorin und Herausgeberin mehrerer Bücher wie «Ich kann doch nicht immer für dich da sein! – Wege zu einem besseren Miteinander von erwachsenen Kindern und betagten Eltern». Bis Herbst 2017 war sie freischaffende Redaktorin bei DRS 1 und DRS 2. Die gebürtige Baslerin engagiert sich seit Jahren stark für Fragen der Begabungs- und Begabtenförderung in der Schweiz. Vorträge zu Bildungsthemen gehören wie der Journalismus nach wie vor zu ihrem Tätigkeitsbereich. Privat frönt Cornelia Kazis, die in Basel lebt, ihrer Leidenschaft für Mode und Tanz.