Mutmasslicher Sexualstraftäter ist vor dem Prozess untergetaucht – er war nie in U-Haft

Das Mädchen war zwischen zwölf und dreizehn Jahren alt, als es passiert sein soll. Der Junge zwischen elf und dreizehn. «Es» ist das, was die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten, einem heute 32-Jährigen aus Afghanistan, vorwirft. Auf sieben Seiten beschreibt sie die Vorwürfe gegen den Mann. Sexualdelikte.

Das Mädchen soll er an Bauch und Brüsten angefasst haben, ihr in die Hose gegriffen und einen Finger in die Vagina gesteckt haben. Er soll sie aufgefordert haben, seinen Penis anzufassen, soll ihren Kopf nach unten gedrückt haben, sodass sie seinen Penis in den Mund nehmen musste. In der Anklage werden zwei Vorfälle geschildert. Ausserdem soll er ihr Fotos seines Penis und anzügliche Nachrichten geschickt und sie aufgefordert haben, ihm Bilder ihrer Scheide zu schicken.

Missbrauch unter der Dusche und im Kinderbett

Beim Jungen handelt es sich um den Sohn der damaligen Partnerin des Beschuldigten. Ihn soll er laut Anklage zwischen 2017 und 2019 mehrmals anal vergewaltigt haben. In der Dusche oder im Kinderbett.

Beide Kindern fürchteten sich vor dem Beschuldigten. Laut Anklage soll er ihnen erzählt haben, dass er im Syrienkrieg Menschen umgebracht habe. Das Mädchen soll er zudem damit erpresst haben, dass er Fotos ihres Intimbereichs ihrer Mutter sowie ihrem Bruder zeigen würde und diese auf Facebook publizieren würde.

Letzte Woche hätte sich der 32-Jährige vor dem Bezirksgericht Brugg wegen mehrfacher sexueller Nötigung, mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern, mehrfacher Pornografie und Vergehen gegen das Waffengesetz verantworten müssen.

Am Tag der Gerichtsverhandlung war der Gerichtspräsident da. Die vier Bezirksrichterinnen und Bezirksrichter. Der Gerichtsschreiber. Der Staatsanwalt. Der Verteidiger. Die Dolmetscherin. Die Opferanwältin und die beiden Kinder hielten sich bereit. Insgesamt zwölf Personen. Nur einer fehlte: der Beschuldigte.

Gericht hat ihn international zur Verhaftung ausgeschrieben

Er ist nicht auffindbar. Das stellte das Bezirksgericht fest, nachdem die Anklage beim Gericht eingetroffen war. Der Afghane wurde danach international zur Verhaftung ausgeschrieben. Bisher ohne Erfolg.

Deshalb blieb dem Gerichtspräsidenten letzte Woche nichts anderes übrig, als festzustellen, dass der Beschuldigte fehlte. Er setzte einen neuen Verhandlungstermin auf den 2. November an. Ist der mutmassliche Sexualstraftäter bis dann immer noch nicht aufgetaucht, findet ein Abwesenheitsverfahren statt. Das heisst: Staatsanwaltschaft, Verteidigung und die Opfervertreterin halten ihre Plädoyers und das Gericht fällt ein Urteil.

Die Staatsanwaltschaft sah keinen Grund für U-Haft

In einem Strafverfahren gilt für alle Beschuldigten bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung. Das ist eines der Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens.

Wer liest, was dem 32-jährigen Afghanen vorgeworfen wird und welche Strafe ihm droht, fragt sich trotzdem: Warum sitzt er nicht im Gefängnis? Hat die Staatsanwaltschaft nicht versucht, beim Zwangsmassnahmengericht Untersuchungshaft zu beantragen?

Hat sie nicht. Der Beschuldigte sei nicht in Untersuchungshaft gewesen, teilt die Medienstelle der Staatsanwaltschaft auf Anfrage mit. Entscheidend sei auch gewesen, dass der Beschuldigte über keine einschlägigen Vorstrafen verfügte.

Im Untersuchungsverfahren verpasste der Beschuldigte keinen Termin

Bei den weiteren Haftgründen handelt es sich um Flucht-, Wiederholungs- und Kollusionsgefahr. Die Staatsanwaltschaft argumentiert, die Straftaten hätten sich im familiären Nahbereich ereignet. Der Beschuldigte habe nach dem Auffliegen der Taten nicht mehr zu Hause gewohnt und ein Kontakt zu den Opfern habe man ausschliessen können, sodass Kollusionsgefahr und Wiederholungsgefahr nicht gegeben waren. Eine Gemeingefahr habe nicht bestanden.

Auch eine Fluchtgefahr habe man zum damaligen Zeitpunkt, als sich die Frage der Verhaftung stellte, ausschliessen können. Dass der Beschuldigte nach Afghanistan, von wo er bereits in die Schweiz geflohen war, flüchten würde, habe man ebenfalls ausschliessen können. Ausserdem habe sich der Beschuldigte im Untersuchungsverfahren kooperativ gezeigt und sei zu den vereinbarten Terminen stets zuverlässig erschienen.