
«Mythen braucht eine Gesellschaft»
Das Weisse Buch von Sarnen enthält die älteste bekannte Chronik zur Entstehung der Eidgenossenschaft. Angelo Garovi, alt Staatsarchivar von Obwalden, hat das Buch gehütet und studiert.
Was feiern wir Schweizer eigentlich am 1. August?
Angelo Garovi: Seit 1891 das Bündnis der drei Orte vom August 1291. Nach dem Tod des römisch-deutschen Königs Rudolf von Habsburg am 15. Juli 1291 schlossen Uri, Schwyz und Nidwalden – Obwalden fehlte – einen Bund, in dem sie sich Schutz vor innern und äusseren Feinden versprachen und die Herrschaftsrechte garantierten. Sie wollten auch die eigenen Landammänner als Richter.
Sie haben erwähnt, dass Obwalden fehlte. Weshalb war dem so?
Im Bundesbrief steht nur «die Gemeinde des unteren Tales von Unterwalden». Unterwalden ob dem Wald war über die Kellner von Sarnen – ein Niklaus war 1291 in Obwalden Minister – verwandtschaftlich eng mit der Stadt Luzern verbunden; hier war Ritter Heinrich Kellner von Sarnen 1291 Burgermeister. Obwalden war offenbar nicht auf den Schutz dieses Landfriedensbündnisses angewiesen. Anders dann im Brief von 1315 nach der Schlacht bei Morgarten.
Stellt der Bund von 1291 etwas Aussergewöhnliches in Europa dar?
Eigentlich nicht, er gehörte in die Reihe der zahlreichen Landfriedensbündnisse.
Warum ist genau der 1. August Bundesfeiertag?
Der Bundesbrief wurde von einem Schreiber, der wohl in Bologna studiert hatte, verfasst. Er hat diese Urkunde im Sinne der damaligen Rechtsgewohnheit datiert. Dabei werden die Monate in zwei Hälften geteilt. Man datierte nach der ersten oder zweiten Hälfte des Monats. Im Bundesbrief steht: «incipiente mense Augusto», im angehenden Monat August. Also nach der ersten Hälfte. 1891 übernahm man dann den erstmöglichen Tag, den 1. August.
Welches Datum verbinden Sie am ehesten mit der Entstehung der Eidgenossenschaft oder mit der Gründung der Schweiz?
Wichtige Daten für die Entstehung der drei Orte waren 1231, 1240 und 1309, an denen diese Talschaften königliche Freiheitsbriefe erhielten. Nach der Schlacht bei Morgarten und dem darauf folgenden Bundesbrief von 1315 festigte sich der Zusammenhalt der vier Waldstätte Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden. Bis 1353 wird der Bund zur achtörtigen Eidgenossenschaft erweitert. Mit gutem Recht kann man seit dieser Zeit von der Entstehung der Eidgenossenschaft reden. Der Name Schweiz für die Eidgenossenschaft setzt sich erst im späten 15. und im frühen 16. Jahrhundert allmählich durch. Niccolò Machiavelli spricht um 1515 von den Svizzeri.
Sie haben als Staatsarchivar von Obwalden das Weisse Buch von Sarnen gehütet und studiert. Was ist das Besondere an diesem Buch?
Im Weissen Buch von Sarnen wird um 1470 erstmals die bekannt gewordene Geschichte des Schützen Tell erzählt und mit dem Sagenkreis um die Gründung der Eidgenossenschaft durch Stauffacher und dessen Mitverschwörer, die auf dem Rütli tagten, verbunden. Diese Geschichte wird dann sozusagen in der gleichen Form von Friedrich Schiller in seinem «Wilhelm Tell» übernommen – und prägte das allgemeine Geschichtsbild von der «Gründung» der Eidgenossenschaft bis heute.
Der Rütlischwur! Das habe ich vor Jahren in der Schule gelernt. Obwohl dieser geschichtlich nicht belegt ist, wird diese Geschichte immer noch gelehrt. Braucht es da nicht eine Anpassung?
Der Rütlischwur wurde ein Mythos, der bis in die neuere Zeit wichtig geworden ist. Nicht zufällig wählte General Guisan im Juli 1940 diesen Ort für seinen Rapport. Ich glaube, Mythen braucht es in einer Gesellschaft, aber sie sollen auch als das angesehen werden. Wir erkennen den Ursprung dieses Mythos‘ klar im Weissen Buch. Der Dichter Gottfried Keller meinte, wir wären füglich gezwungen, wenn keine Sage über die Entstehung der Eidgenossenschaft vorhanden wäre, eine solche zu erfinden.
Im Volksmund wird vom Geburtstag der Schweiz gesprochen, was ja so nicht stimmt. Was denken Sie, ist eine Aufklärung der Bevölkerung über historische Fakten notwendig?
Ja, schon. Aber wenn oft nicht einmal die Geschichtslehrer, ja sogar Geschichtsprofessoren, die historischen Fakten genau kennen und den Bundesbrief von 1291 noch nie gelesen haben, kann man es dann vom Volk verlangen? Der frühere Basler Geschichtsprofessor Werner Meyer, der wohl beste Kenner der Entstehungsgeschichte der Schweiz, meint: «Kritisches Hinterfragen beschränkt sich nicht nur auf die Rekonstruktion der historischen Ereignisse, sondern befasst sich auch mit den Bedeutungsinhalten der Begriffe. Gerade damit tut man sich in der Schweiz schwer.»
Weshalb tun wir uns so schwer damit?
Weil die Leute – mitsamt den Fachleuten – die Urkunden nicht richtig lesen, das heisst, die rechtlichen Begriffe nicht aus der Zeit deuten.
Das Weisse Buch enthält Abschriften der eidgenössischen Bundesbriefe von 1315 bis 1452. Wieso ist das Dokument vom August 1291 nicht dabei?
Hans Schriber war ein versierter Landschreiber und ausgezeichneter Jurist römisch-rechtlicher Schule. Der Bundesbrief von 1291 war rechtlich nicht mehr aktuell, für ihn galt als Landschreiber der revidierte, in deutscher Sprache verfasste Bundesbrief von 1315; damit beginnt er auch die Reihe der Abschriften der Bundesbriefe.
Ist das Dokument von 1291 also gar nicht so wichtig für die Entstehung der Eidgenossenschaft?
Die Freiheitsbriefe sind ebenso wichtig. Der Bundesbrief von 1291 ist der älteste erhaltene Bundesbrief der drei Länder; in ihm wird aber noch ein früheres Bündnis («antiquam confederations formam», wohl von 1273) erwähnt, das man bestätigte.
Hans Schriber hat in seiner Chronik Personen und Ereignisse aus dem 14. und 15. Jahrhundert aufgenommen, ins 13. Jahrhundert verschoben und aus diesen Fakten die eidgenössische Gründungsgeschichte mit Rütlischwur, Apfelschuss und Tyrannenmord erdichtet. Ist alles nur gut erfunden oder findet sich darin ein Körnchen Wahrheit?
Der Obwaldner Landschreiber schrieb seine Chronik tatsächlich aus der Sicht des 15. Jahrhunderts. Er hat als humanistischer Chronist erstmals die verschiedenen lokalen Befreiungstraditionen zu einer stimmigen Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft zusammengefasst und diese brillant mit der aus dem Norden stammenden Toko-Sage (Tellsage) verknüpft. In der Tat sind lokale Ereignisse und Fehden auszumachen, so etwa die Einnahme der Burg von Sarnen um 1305. Der Berner Historiker Konrad Justinger und der Zürcher Felix Hemmerli erzählen dieselben Geschichten schon einige Jahre früher. Schriber hat diese vorhandenen Erzählungen in einer glänzend geschriebenen Befreiungsgeschichte literarisch verarbeitet – so gut, dass sogar Friedrich Schiller seine Version auch im formalen Aufbau übernommen hat.
Warum hat Schriber diese Chronik verfasst?
Er hat darin, als eine Art «Gegenschrift» zu einer Veröffentlichung der österreichischen Innsbrucker Kanzlei, den Rechtsstandpunkt der Reichsunmittelbarkeit dargestellt – mit einem polemischen Ton, vor allem im Hinblick auf das Ewige Bündnis mit Österreich von 1474: Obwalden wollte diesem Frieden nicht beitreten.
Aus welchem Grund wollte Obwalden keinen Frieden mit den Habsburgern?
Obwalden war in verschiedene Händel mit den Österreichern verwickelt (Koller- und Möttelihandel) und stand deswegen mit den Habsburgern auf Kriegsfuss.
Wie feiern Sie persönlich den 1. August?
In der Bundeshauptstadt Bern. Am Abend werde ich mir das Feuerwerk ansehen.
Was bedeutet Ihnen der 1. August?
Ein Tag, an dem man sich mit Recht der schweizerischen Geschichte im Auf und Ab erinnert.
Sehen Sie sich als Patriot?
Ich sehe mich nicht als Patrioten. Ich schätze es, Schweizer zu sein, und habe mich auch für dieses Land engagiert, wo ich einen Beitrag leisten konnte. In meinem Fall war es vor allem die Arbeit für meinen Heimatkanton Obwalden, wo ich als Staatsarchivar während eines Vierteljahrhunderts auch das Weisse Buch hüten durfte.
Angelo Garovi wurde 1944 in Sarnen geboren. Er studierte Germanistik, Musikwissenschaft und Geschichte in Zürich und Bern. Er war Musikredaktor beim Schweizer Radio SRF, Staatsarchivar des Kantons Obwalden und nebenamtlich Professor für Linguistik an der Universität Basel. Seit der Pensionierung 2007 nimmt er vor allem interdisziplinäre Lehraufträge an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland wahr und publiziert Beiträge in diversen Zeitungen.