
Nach «Carlos»-Prozess: Warum werden manche Kinder zu Gewalttätern und andere nicht?
Carlos hat viele Diskussionen angeregt. Über die Wirksamkeit von Therapien beispielsweise und die Entscheide von Richtern. Carlos Persönlichkeit wurde analysiert, forensische Psychiater wurden befragt. Darunter auch Gerichtspsychiater Josef Sachs, der in der «Sonntagszeitung» sagte: «Jedes Kind kann zu einem Schläger werden.»
Für Eltern hört sich das wie eine Drohung an. Und so führt der Fall Carlos am Ende auch zur Frage: Was macht Kinder gewalttätig? Noch manches Kind wird wie er früher als «laut, fordernd und unbändig» beschrieben. Und wird kein Carlos. Neuroforscher Gerhard Roth schätzt, dass fünf Prozent aller Kinder solche Rabauken sind, die prügeln und Tiere quälen. Aber «nur» die Hälfte von ihnen werde später kriminell.
Nach den ersten Jahren ist der Einfluss nicht mehr gross
Klar ist, dass eine Heimjugend mit häufig wechselnden, überforderten Bezugspersonen die Entwicklung eines Kindes verschlimmert. Später hat die Peergroup einen Einfluss, wenn dort Gewalt zum Umgang gehört.
Doch viele Entwicklungspsychologen sind inzwischen überzeugt, dass die schlimmsten Fehler vorher passieren. Neurobiologe Roth beziffert den Einfluss der sozialen Erfahrungen auf die Persönlichkeit gar auf nur 20 Prozent (unten stehender Text). Der Tod der Eltern beispielsweise oder auch Armut spielen eine geringe Rolle.
Genetische Veranlagung alleine macht niemanden gewalttätig
Was sonst muss also in den ersten Lebensjahren geschehen, damit sich ein Mensch später nicht im Leben zurechtfindet? Die wichtigsten Faktoren sind körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch oder schwere Vernachlässigung. Für Gewalttätigkeit spielt auch die genetische Vorbelastung eine Rolle. Erst wenn diese und die schlechten Umstände zusammenkommen, sind die Prognosen düster.
Die Fachleute, die mit auffälligen Kindern und Jugendlichen zu tun haben, erfahren von einem Teil der widrigen Umstände. Rolf Widmer, Geschäftsführer von Tipiti, einer Schule für solche Kinder in der Ostschweiz, sagt: «Viele unserer Jugendlichen sind in den ersten Lebensjahren vernachlässigt worden.» Ihre Bedürfnisse wurden nicht wahrgenommen, manche waren häufig alleine. Guido Fried von der Institution «Sofa», die Pflegekinder und andere Jugendliche begleitet, schildert einen Fall von einem Kind, das nicht mehr weinte, wenn es Hunger oder die Windel voll hatte. Er sagt: «Es lernte, dass dann niemand kommt.» Besonders oft betroffen sind Kinder mit ganz jungen Eltern, solche, die ständig streiten, und Alleinerziehende ohne soziales Netz. Also hochgradig Überforderte. «Das hat Auswirkungen aufs Urvertrauen der Kinder», sagt Fried.
Die Institutionen sagen aber alle, auch viele Kinder aus gutem Haus würden zu ihnen kommen. Widmer spricht in diesen Fällen von Verwöhnungsverwahrlosung. Das vermeintliche Zuviel ist auch hier ein Zuwenig: «Die Kinder bekommen viel, vor allem Materielles, aber nicht, was sie wirklich brauchen. Ihnen fehlen Erfolgserlebnisse, Anerkennung, die sie sich selber erarbeitet haben. Und die aktive Präsenz der Eltern.» Sie bekommen kaum Grenzen gesetzt.
Wie in der Trotzphase – aber mit der Kraft eines Teenagers
Sogar überbehütete Kinder können gewalttätig werden – oft gegen die eigene Mutter. Sie haben nicht gelernt, sich selber zu beschäftigen, können sich als Jugendliche nicht einschätzen und haben eine geringe Frustrationstoleranz. Wenn dann noch unterschwellig hohe Erwartungen der Eltern dazukommen, ist auch hier die Prognose schlecht. «Wie ein dreijähriges Kind in der Trotzphase, aber mit der Kraft und Intelligenz eines Teenagers», so hat es Johannes Kapp von der Krisenintervention Bussola ausgedrückt. «Wenn die Kinder Impulskontrolle nicht lernen, schreiben sich die Reaktionsmuster immer stärker im Gehirn fest.»
Oft wissen die Sozialpädagogen in den Heimen nicht genau, wie es dazu kam, dass mit dem Jugendlichen nun kaum ein Umgang zu finden ist. Auch wenn das wichtig wäre. Traumapädagogin Gisela Helbling begleitet bei Kidcare Kinder in Pflegefamilien und sagt: «Wenn Pflegeeltern den Grund für das Verhalten kennen, hilft das ihnen, das Kind zu verstehen – es verhält sich nicht absichtlich so.» Zur Gewalt sagt sie: «Das ist keine bewusste Strategie. Speziell den traumatisierten Kindern geht es dabei ums Überleben. Sie fallen in archaische Verhaltensweisen zurück.» Sie, mit denen gemacht wurde, was sie nicht beeinflussen konnten, müssen sich später unbedingt als selbstwirksam erleben. Manche greifen auch zu Suchtmitteln. So kontraproduktiv das langfristig sein mag.