
Nasskalte Sommerferien in den hiesigen Bergen – doch die Schweizer Touristen tun einfach so, als ob nichts wäre
Kurve um Kurve arbeitet sich das Postauto das Tal hoch, und mit jeder rückt die Lenzerheide näher. Im Bauch des gelben Busses debattieren Mountainbiker, es geht um einen Handy-Akku, der sich schon dem Ende zuneigt, obwohl der Tag noch jung ist. Das ist ein Problem, so das Verdikt der Runde. «Vor allem bei der Kälte, die ist nicht gut für den Akku», sagt einer noch.
Die Kälte also, und das im Hochsommer. Der Ton ist gesetzt für diese Geschichte, in der es darum gehen soll, wie es so zu- und hergeht in den Schweizer Ferienorten in diesem Sommer, der gerade überhaupt keiner ist. Auf der Lenzerheide, 1500 Meter über Meer, gelegen in einem Hochtal, von Bergen umgeben, durch einen See verziert, hat es an diesem Tag knapp über zehn Grad. Schön ist anders. Schlimm aber auch, finden die Gäste, wie sich bald zeigen wird; fast alle sind Schweizer, die einfach so tun, als ob nichts wäre. Ganz nach dem Motto: Diese Tage lasse ich mir nicht verhageln.
Wenn man noch kurz ein Stirnband kaufen muss
Für die Sommermonate gibt es auf der Lenzerheide eigentlich ein Lido, im Wasser wartet ein Floss auf die Badegäste. An diesem Tag aber liegt die Wiese leer da, nur eine Familie aus Zürich streift über das Gelände. Die Mutter erzählt, sie habe sich eben ein Stirnband gekauft. Und lacht.
Wer in diesen Tagen ins Wasser will, den zieht es zum Hallenbad, das ein wenig erhöht liegt, gleich neben einem Skilift. Dort sitzen die Langs aus dem Kanton Zug auf einer Bank: Vater und Mutter, zwei Töchter und zwei Söhne, frisch aus dem Bad allesamt. Und bestens gelaunt. «Stimmung gut, trotz des Wetters, und auch wenn wir weniger zum Bräteln kommen als gedacht», meldet der Vater.

Familie Lang aus dem Kanton Zug geniesst die Zeit zu sechst.
Die Familie hat im nahen Alvaneu ein Maiensäss gemietet, es liegt auf 1800 Meter über Meer. Die letzten zehn Tage: ziemlich viel nass. Und ziemlich viel kalt. Aber eben auch: viel Zeit zu sechst. «Und darum geht es ja schliesslich», finden die Langs, die den verregneten Vortag im Maiensäss verbracht haben. Den ganzen Tag Spiele spielen, das gibt es ja auch nicht oft.
Drinnen im Hallenbad zeigt die Kassiererin auf das Kamerabild des Babybeckens und sagt, das Hallenbad sei auch heute wieder gut gefüllt. Aber gestern, da seien noch viel mehr Leute gekommen, «Vollstress», und das im Hochsommer. Statt 150 Leuten lassen sie jetzt 300 ins Hallenbad.
Der letzte Sommer ging in die Geschichte ein, weil den Schweizern wegen Corona kaum etwas anderes übrig blieb, als ihr eigenes Land zu entdecken. Sie reisten vom Osten in den Westen und umgekehrt. Gingen neue Wege. Schauten, wie es eigentlich aussieht in diesem Appenzellerland, von dem man bisher immer nur gelesen hatte. Viele kehrten verliebt zurück, zumindest ein wenig. Doch Touristiker mögen keine Affären. Sie wollen Liebesbeziehungen. Erstgäste, wie sie im Jargon heissen, sind gut. Was wirklich zählt, sind die Stammgäste.
Der Hotelier-Direktor rechnet mit einem anständigen Sommer
Der «Schweizerhof» ist eines der besten Häuser auf der Lenzerheide. Gastgeber Andreas Züllig sitzt in der Lobby und erzählt zufrieden, dass der letzte Sommer die eine oder andere Liebesbeziehung habe entstehen lassen. Erstgäste, die jetzt auf dem Weg zu Stammgästen sind, aus der Westschweiz etwa.

Andreas Züllig, Gastgeber im Hotel Schweizerhof und Präsident von Hotelleriesuisse.
Doch reicht das, um den Tourismusgebieten wieder einen Sommer wie den letzten zu verschaffen, der manchen Destinationen gar Rekorde bescherte? Es ist noch ein wenig früh, darauf eine Antwort zu geben. Aber wahrscheinlich eher nicht. Züllig, der auch den Hotelier-Verband Hotelleriesuisse präsidiert, ist zuversichtlich, dass es «ein anständiger Sommer» wird. In Graubünden wie anderswo in der Schweiz sei die Buchungslage ähnlich wie im letzten Jahr, wenn auch tendenziell leicht schlechter. «Den einen oder anderen Schweizer zieht es trotz der Umstände wieder ins Ausland», sagt Züllig. Die Gäste aus dem Ausland kommen derweil erst auf «sehr tiefem Niveau» zurück.
Das Wetter ist – gute Stimmung auf der Lenzerheide hin oder her – trotzdem ein wichtiger Faktor. Andreas Züllig sagt, gerade Schweizer Gäste buchten kurzfristig. Acht bis zehn Prozent der Logiernächte hängen davon ab, wie das Wetter sich entwickelt. Das sind nur ein paar Prozent, aber wichtige.
Die Multifunktionsjacke ist die Uniform des Schweizer Touristen
Auf der Lenzerheide, ursprünglich ein Wintersportort, forcieren sie wie anderswo seit Jahren den Sommertourismus. Eine Talseite gehört den Bikern. Dort stürzen sich auch an diesem Tag Menschen jedes Alters steile Pisten hinunter. Ihre Köpfe stecken in grossen Helmen. Sie bremsen erst kurz vor der Talstation. Finden kaum Zeit, die Maske ins Gesicht zu ziehen. Und fahren schon wieder in der Gondel den Berg hoch. Biken gehe immer, bei jedem Wetter, sagt eine Frau, die auf Mann und Kind wartet.

Bike Kingdom, so nennt sich die Lenzerheide selbst.
Und dann ist da noch der Eichhörnchenwald. Dort sind gerade die Krafts aus Frauenfeld, Thurgau, unterwegs. «Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleider», sagt die Mutter. Grosses Gelächter. Ein paar Schritte weiter steht die Familie Känel, Berner Seeland, zwischen den Bäumen; man hat einen Sack Nüsse dabei und den drei Kleinen eine Kappe über die Ohren gezogen. Den Kindern sei das Wetter egal, sagen die Eltern, und man hört eine gewisse Erleichterung heraus. Alle stecken in Multifunktionskleidung, so, wie das fast jeder tut auf der Lenzerheide. Sie ist die Uniform des Schweizer Touristen. Er wappnet sich erst mal für alles, bevor er das Abenteuer sucht.

Familie Känel aus dem Seeland: Hauptsache, den Kindern macht der Regen nichts.
Könnte man jetzt nicht auch am Strand liegen, wäre das nicht klüger gewesen, liebe Familien Känel, Kraft, Lang? Nein, sagen sie alle, und Vater Lang, stellvertretend: «Wäre doch langweilig.»