
Neue Studie zeigt: Wie Richterinnen und Richter durch die Politik beeinflusst werden
In der Theorie funktioniert es so: Richterinnen werden nach Parteistärken gewählt, damit alle Werte an den Gerichten demokratisch gerecht vertreten sind. Sobald ein Richter im Amt ist, soll die Partei aber keine Rolle mehr spielen. Richter, die Parteimitglieder sind, stellen eine Schweizer Besonderheit dar. Eine weitere ist: Jeweils nach sechs Jahren finden Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts statt. Internationaler Standard sind längere, einmalige Amtszeiten. In der Schweiz hingegen kommt es in kurzen Abständen immer wieder zu politischen Intermezzi, die aber die Rechtsprechung nicht beeinflussen sollen – in der Theorie.
Durch Einzelfälle wie die Wiederwahl von SVP-Bundesrichter Yves Donzallaz erhält dieses ideale Bild der Schweizer Justiz Risse. Doch lässt sich der Einfluss der Politik auf die Rechtsprechung auch empirisch nachweisen? In der Schweiz gab es bisher erst zwei Forschungsarbeiten, die sich damit beschäftigt haben. Sie kamen zu keinen klaren Ergebnissen. Die Schwierigkeit dabei war, wie sich der Einfluss überhaupt messen lässt.

Bundesrichter Thomas Stadelmann.
Ein Bundesrichter untersucht eine heikle Frage
Der Luzerner Bundesrichter Thomas Stadelmann (Die Mitte) wollte es genau wissen. Er stiess bei seinen Recherchen auf einen norwegischen Forscher, der die gleiche Fragestellung am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte untersucht. Stadelmann ging mit dem norwegischen Juristen eine Kooperation ein. Zusammen schrieben sie einen Beitrag für eine juristische Fachpublikation, die am 1. November, vier Wochen vor der Abstimmung über die Justizinitiative erscheinen wird. Der Text liegt CH Media vor.
Das will die Justizinitiative
Die Mitglieder der eidgenössischen Gerichte werden vom Parlament gewählt. Gemäss einer ungeschriebenen Regel berücksichtigt es die Parteistärken. Um Richterin zu werden, ist man also auf die Unterstützung einer Partei angewiesen. Früher wurden die Kandidaten in Hinterzimmern nominiert. Seit 2003 nimmt die Gerichtskommission die Auswahl vor. Seither wurden alle ihre Vorschläge vom Parlament gutgeheissen.
Die Justizinitiative, über die am 28. November abstimmt wird, fordert einen Systemwechsel für die Wahl ans Bundesgericht. Neu soll eine unabhängige Fachkommission, die vom Bundesrat gewählt wird, alle Bewerberinnen und Bewerber fachlich und persönlich prüfen. Wenn es mehr qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber als Stellen gibt, soll ein Losverfahren entscheiden.
So will die Justizinitiative verhindern, dass die Auswahl von Parteien, Verwaltungen oder Lobbyorganisationen beeinflusst wird. Neu sollen die Richterinnen und Richter bis zur Pensionierung gewählt werden. Wiederwahlen entfallen. Eingeführt würde dafür ein Amtsenthebungsverfahren bei schweren Amtspflichtverletzungen. (mau)
Der Europäische Gerichtshof eignet sich wegen einer speziellen Konstellation als Anschauungsbeispiel. Im Jahr 2010 wurden die Amtszeiten der Richter mit sofortiger Wirkung von sechs auf neun Jahren verlängert. Gleichzeitig wurden die Wiederwahlen abgeschafft. Es wurden also einmalige Amtszeiten eingeführt, wie sie die Justizinitiative fordert.
Die Reform wurde schon lange diskutiert. Eingeführt wurde sie aber überraschend. Blockiert wurde der Systemwechsel nämlich jahrelang von einem Veto aus Russland. Dann gaben die Russen im Jahr 2010 plötzlich doch ihr Jawort, worauf die Umstellung sofort erfolgte. Für die Richter war der Wechsel also nicht absehbar. Das ist für die Studie wichtig, weil sich damit der mögliche Einfluss der Reform zeitlich festlegen lässt. Der Bruch führte zu einem Vorher und einem Nachher, das sich vergleichen lässt.
Der Beweis: Längere Amtszeiten machen Richter unabhängig
Die statistische Analyse zeigt, dass die Richter vor der Reform dazu neigten, den Staat, der sie ernannte, in ihrer Rechtsprechung zu bevorzugen. Diese Tendenz wurde dann durch die nicht mehr verlängerbaren Amtszeiten verringert. Die Richter hatten also weniger Angst, ihren Ernennungsstaat zu enttäuschen und damit ihre Wiederwahl zu gefährden. Die Reform hat somit ihren Zweck erfüllt. Sie hat die richterliche Unabhängigkeit gestärkt.
Allerdings gibt es Unterschiede. Richter mit diplomatischem oder bürokratischem Hintergrund neigten auch nach der Reform stärker dazu, ihren Ernennungsstaat weiterhin zu bevorzugen, als Richter mit akademischem oder privatwirtschaftlichem Hintergrund. Das liegt wohl daran, dass die erste Gruppe auch nach ihrer Laufbahn am Europäischen Gerichtshof auf die Gunst ihrer Regierung angewiesen ist.
Ein weiterer Unterschied zeigt sich zwischen jungen Richtern und älteren, die kurz vor der Pensionierung stehen. Die älteren passten ihre Rechtsprechung nicht an. Sie waren ohnehin nicht mehr auf eine Wiederwahl angewiesen. Jüngere hingegen wurden nach der Reform mutiger, in Urteilen ihren Heimatstaat zu rügen. Mit der Reform wurden sie unabhängiger.
Die Studie entkräftet ein Argument von Karin Keller-Sutter
Bundesrichter Stadelmann leitet daraus für die Schweiz folgendes Fazit ab: «Will man unabhängige Richter, welche sich bei ihrer Urteilsfindung nicht durch Überlegungen zur Akzeptanz ihrer Voten durch die politischen Parteien beeinflussen lassen, so muss man sie einmalig ins Amt bestellen, und zwar auf möglichst lange Zeit.» Die Forschung zeige, dass Wiederwahlen in kurzen Abständen nicht nur den Anschein erwecken, dass die Richterinnen und Richter nicht unabhängig von Überlegungen zu ihren Wiederwahlchancen Recht sprechen würden. Die ausgewerteten Daten würden vielmehr belegen, dass ein System mit kurzen Amtsdauern und Wiederwahlen eine effektive Beeinflussung der Rechtsprechung verursache. Anhaltspunkte dafür, dass das in der Schweiz grundsätzlich anders wäre, seien nicht ersichtlich, schreibt Stadelmann.
Justizministerin Karin Keller-Sutter sagte zu diesem Thema im Interview mit dieser Zeitung: «Es ist in der Schweiz noch nie ein Richter abgewählt worden aufgrund eines Urteils.»
Stadelmann schreibt in seinem Beitrag, dieses Argument verkenne das Grundproblem. Die Einflussnahme geschieht also auf subtile Art. Schon die Möglichkeit einer Nichtwiederwahl sowie die regelmässigen «Denkzettel» in der Form von schlechten Wahlresultaten zeigen Wirkung, wie sich statistisch nachweisen lässt.
Auf Anfrage will sich Stadelmann nicht zu seinem juristischen Beitrag äussern. Das scheint ihm zu heikel zu sein, obwohl sich der 63-Jährige in seiner letzten Amtsperiode befindet.
Über eine halbe Million Franken fliesst in Parteikassen
Die Abhängigkeit ist gegenseitig: Die Politik ist auf Geld aus den Gerichten angewiesen. Wer wie viel erhält.
Offiziell gibt es sie nicht. Mandatsabgaben sind in keinem Gesetz geregelt. Es sind jährliche Zahlungen von Richterinnen und Richtern an ihre Parteien. Sie bedanken sich damit dafür, dass sie von der Politik einen Job erhalten haben. Einen gut bezahlten. Eine Bundesrichterin verdient 80 Prozent des Lohns einer Bundesrätin. 365’000 Franken.
Jede Partei hat ihre eigenen Regeln, wie die Abgaben berechnet werden. Bei der SP werden sie Solidaritätsabgaben genannt und betragen vier Prozent des Nettoeinkommens. Hinzu kommt ein «zusätzlicher, freiwilliger Beitrag von mindestens tausend Franken», wie es bei der Partei heisst. Freiwillig ist allerdings nicht das präzise Adjektiv, freiwillig ist nur eine Erhöhung.
Bei der Partei Die Mitte hingegen spricht man von freiwilligen Unterstützungsbeiträgen. Im Alltag klingt das anders. Die erste Frage bei der parteiinternen Anhörung von Kandidaten für das Bundesgericht hat schon gelautet: «Sind Sie bereit, die Mandatsabgaben zu leisten?» Die Antwort auf Nein würde wohl so lauten: «Vielen Dank für Ihre interessante Bewerbung. Wir haben jedoch eine Person gefunden, die noch besser geeignet ist.»
Fast alle Parteien schaffen Transparenz
Wie viel Geld fliesst von den Gerichten in die Parteikassen? CH Media hat bei den Parteien eine Umfrage gemacht. Alle geben die Summe bekannt, die sie von Richterinnen und Richtern des Bundesgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesstrafgerichts erhalten – mit einer Ausnahme, der SVP. Es ist aber bekannt, dass die Partei zwei Prozent des Bruttolohns verlangt, was eine Hochrechnung ermöglicht.
Die Recherche zeigt: 667’000 Franken fliessen jährlich von den Gerichten zu den Parteien. Die höchsten Beiträge verlangen linke und grüne Parteien. SP und Grüne decken damit je fünf Prozent ihrer nationalen Budgets. Sie bekämpfen die Justiz-Initiative, mit der die Mandatsabgaben abgeschafft würden, auch mit dem Argument, zuerst müsste eine staatliche Parteifinanzierung eingeführt werden.

Die SVP verlangt von jeder Richterin halb so viel Geld wie die SP. Aufgrund ihrer Wählerstärke kommt die SVP dennoch auf den zweithöchsten Betrag.
Am günstigsten vergibt die FDP ihre Richterstellen. Just aus der Partei mit den tiefsten Einnahmen kommt eine parlamentarische Initiative, welche die Mandatssteuern verbieten will. Sie wird nach der Abstimmung über die Justiz-Initiative behandelt.