Nicht 1291 und nicht beim Rütlischwur – wann die Schweiz wirklich gegründet wurde

Wie 1291 zum Gründungsjahr wurde

Dass die Gründungsurkunde der Schweiz, der sogenannte Bundesbrief, ein historisch dubioses Dokument ist, kann man wissen, wenn man will. Im Jahr 1291 wurde die Eidgenossenschaft aber definitiv nicht gegründet. Das Dokument ist auf Anfang August 1291 datiert (und wahrscheinlich einige Zeit später entstanden) und ist ein Bund, in dem sich die Talschaften Uri und Schwyz (dass Unterwalden dabei war, ist ein anderes Rätsel) sich gegenseitig Hilfe versprechen. Das Dokument ging in der Folge vergessen. 1291 passte aber gut zu 1891. Der Historiker Wilhelm Oechsli schrieb im Auftrag des Bundesrates das Werk «Die Anfänge der Schweizerischen Eidgenosssenschaft». Das Werk erschien 1891. Die 600-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft fand in dem Jahr statt, in dem der erste konservativ-katholische Bundesrat gewählt wurde. Mit dem Bundesbrief wurde die Innerschweiz, Verlierer des Sonderbundskriegs und der Bundesstaatsgründung von 1848, damit «entschädigt», indem sie zu den Gründern der Eidgenossenschaft erklärt wurde. Den Bundesbrief auf 1291 zurückzudatieren, war kein Zufall, weil der Tod von König Rudolf von Habsburg eine Phase grosser Unruhe und Unsicherheit auslöste. Historiker Bruno Meier erzählt die turbulenten Geschehnisse von 1291. (chb)

«Jüngere Staaten brauchen alte Geschichten.» Der Satz treffe für die Schweiz gleich doppelt zu, schreibt Kurt Messmer in seinem Buch «Die Kunst des Möglichen. Die Entstehung der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert». «Doppelt» müsse man so verstehen, dass die Devise für zwei markante Zeitpunkte der historischen Entwicklung der Schweiz gelte: fürs 15. Jahrhundert und fürs 19. Jahrhundert.

1481 fand sich die damals achtörtige Eidgenossenschaft vor der Herausforderung, die beiden Städte Freiburg und Solothurn zu integrieren. Die Landorte (UR, SZ, UW, ZG und GL) drohten gegenüber den Städten (ZH, BE und LU) die Mehrheit zu verlieren. Die neuen Partner (FR und SO) sind formell nicht gleichberechtigt, an der Urkunde von 1481 hängen nur acht Siegel. Dass der Kompromiss erst zustande kam, nachdem der Rat von Bruder Klaus angehört wurde, passte natürlich dramaturgisch gut in die durchaus heikle Situation.

«Und also gab Gott das Glück, wie böse die Sache vor dem Mittag auch war, sie nach der Botschaft viel besser wurde und in einer Stunde sogar völlig gerichtet und abgetan werden konnte.» So fasst der Chronist Diebold Schilling 1513 die prekäre Situation der jungen Eidgenossenschaft zusammen. Was genau Bruder Klaus sagte, wusste Schilling nicht, denn der Heilige wollte nicht, dass dies ausser den offiziellen Tagsatzungsgesandten jemand erfahre. «Machet den Zuon nicht zwyt», wie immer kolportiert wird, sei es auf jeden Fall nicht gewesen.

Zu 1848 muss unbedingt gesagt werden, dass es «die Schweiz» als territoriales Gebilde erst seit 1798 gibt. Auch 1998, als man das Ereignis «feierte», wollte in der Innerschweiz nicht recht Feststimmung aufkommen. Immerhin war 1848 eine «richtige» Gründung. Und im Vergleich mit Europa, das nicht aus den monarchisch-reaktionären Zuständen herauskam, eine sehr fortschrittliche und zukunftsoffene.

Allerdings war auch damals die Zustimmung der ländlichen katholischen Kantone nicht da. Deshalb setzten bald die Versuche ein, die Innerschweiz auch mental einzubinden. Zum 100. Geburtstag von Friedrich Schiller errichtete man 1859 «dem Sänger Tells» den berühmten Gedenkstein am Vierwaldstättersee. Rund um den See wurden dann «die mythischen Anfänge der Eidgenossenschaft» inszeniert: 1860 das Rütli, 1864 das Winkelried-Denkmal in Sempach, 1865 das von Stans, die Tellskapelle folgte 1882 und das Telldenkmal in Altdorf 1895.

Verklärte Vergangenheit

Es ist noch nicht so lange her, dass die Schulreise der 5. Klasse, damals Abschluss der Volksschule, fast obligatorisch aufs Rütli führte. Und heute noch trifft man, vor allem in Leserbriefen, auf Wendungen wie: «Wenn unsere Vorfahren wüssten, was wir aus dem Staat gemacht haben, den sie eingerichtet haben, . . .» Was die Lehrer ihren Eleven auf der Rütliwiese zu sagen pflegten und ob überhaupt etwas, ist eine andere Sache. Auf jeden Fall war es nicht der Satz von Bundesrat Maurer: «Das Rütli ist nur eine Wiese voller Kuhfladen.»

In Messmers Satz steckt auch ein Umkehrschluss: Je länger die Ursprungsgeschichte nach hinten in die Vergangenheit konstruiert werden muss, desto schwieriger ist es offenbar, das betreffende Staatswesen zu akzeptieren. Oder noch ein bisschen weiter gedreht: Hat man sich mit dem Staatswesen einmal abgefunden, droht die kritische Distanz zu den Ursprungsgeschichten verloren zu gehen. Klar, man konnte nie ernsthaft behaupten: «Tell hat es wirklich gegeben und den Apfelschuss auch.» Aber immer kam gleich die Erklärung hintennach: «Zwar ein Mythos, aber trotzdem wahr.»

Aus der Geschichte lernen
Die Situation ist ja nicht neu. Seit 1968 wird an der Tellengeschichte herumgekrittelt. Damals schrieben Otto Marchi seine «Schweizer Geschichte für Ketzer» und Max Frisch «Wilhelm Tell für die Schule». Der «richtige» Historiker entzaubert die Mythen und sagt, wie «es wirklich gewesen ist». Das unterschlägt, schreibt Messmer, wie wichtig Mythen fürs kollektive Bewusstsein sind. Man beschränkt ihre Wirksamkeit oft auf akute Krisensituationen – wo hätte der Rapport von General Guisan stattfinden können, wenn nicht auf dem Rütli? –, aber Selbstvergewisserung braucht es auch sonst.

Geschichte ist nicht nur Mythenhuberei oder deren Destruktion, sondern ein dialektischer Prozess. Reflektiert man darauf, wann ein bestimmter Mythos und wie er eingesetzt wurde, kann man auch durchaus «aus der Geschichte» lernen.

Als Schweizer haben wir es doch gut. Wir haben eine wunderschöne «Wiege der Eidgenossenschaft» mit der Innerschweiz und dem Vierwaldstättersee. Und wir haben aufregende Geschichten unserer «Vorfahren». Und schliesslich haben wir auch kundige und schreibgewandte Publizisten, die uns das alles in schönen Büchern erklären.