
Ohrenbetäubende Stille
Als ich noch in einer Bulldozer-Rockband spielte, prangte ein grosser Aufkleber auf meinem Gitarrenkoffer: «If it’s too loud, you’re too old» stand darauf. Mit 20 fand ich das ziemlich verwegen, obwohl ich grosse Lautstärke selber nie besonders gut vertragen habe. Von meinem Fundus an SUVA-Ohrstöpseln zehre ich jedenfalls heute noch – und die Band gibt es seit 10 Jahren nicht mehr. Sogar in Bars mit lauter Musik montierte ich Ohrstöpsel. Und trug Sommer wie Winter Wollmützen, damit man sie nicht sah – die Ohrstöpsel meine ich. Viele Jahre bewegte ich mich in einer lauten Welt und hörte davon dank der selbst installierten Isolation oft nur ein dumpfes Gewummer.
Irgendwann hatte ich genug. Nicht mal meine äusserst potente Stereoanlage mag ich mehr richtig aufdrehen, seit Jahren höre ich kaum noch Musik, schon gar nicht mit Kopfhörern. Die kreischenden Bremsen des einfahrenden Zuges machen mich fertig. Das Rauschen der Autobahn nervt mich gewaltig. Menschen, die sich mit mir während eines Konzertes (wenn ich dann mal wieder eines besuche) unterhalten wollen und mir unentwegt Unverständliches in meine SUVA-protected Ears schreien, wecken Mordfantasien in mir. Ich bin also alt und schwach geworden. Könnte man meinen. Ich glaubte es selber eine Weile lang. Spätestens seit Ostern weiss ich, dass es nicht stimmt. Dann sass ich nämlich auf einer Bank im tief verschneiten Engadin, ziemlich exakt 2700 Meter über Meeresspiegel. Die Stille war dermassen ohrenbetäubend laut, dass sie mich beinahe erschlug. Einzig ein kaum hörbares, hohes Fiepen störte die vollkommene Stille. Erst als das Fiepen mit der Zeit leiser wurde und dann ganz verschwand, realisierte ich, dass es meiner Lunge entsprungen war. Eine derartige Stille kann man im Mittelland unmöglich erleben. Sie macht süchtig wie ein Trip auf einer Wolke! Sie wirkt wie eine Instant-Entspannungspille.
Das versuchte ich nach den Ferien im Engadin meinen Bekannten mit grosser Begeisterung verständlich zu machen. Die entgeisterten Gesichter derjenigen, die ich bekehren wollte, sprachen Bände. Anstatt den nächsten Zug ins Engadin zu nehmen, sagten die Bekannten Dinge wie «Ohne Hintergrundmusik kann ich unmöglich einschlafen», oder «Ich gehe nicht mal Joggen ohne Kopfhörer und Musik» oder «Allzu viel Ruhe macht mich nervös». Haben diese Menschen Angst davor, sich selber zu begegnen, wenn sie mal ein paar Minuten innehalten in ihrem nervösen, rastlosen Alltagsgewusel? Ich weiss es nicht und ehrlich gesagt ist es mir langsam ziemlich egal. Von mir aus soll doch die ganze Welt Presslufthammer im Schlafzimmer rattern lassen, um die beklemmende Stille zu vertreiben, bei der man – ganz unerwünscht! – am Ende noch ins Grübeln über den Grund des ständigen Zwangs zur Ablenkung kommt. Ich bastle übrigens gerade einen neuen Kleber: «Too weak to stand silence?» steht drauf. Brauchen Sie einen?