
Pensionierter Chefarzt erhebt Vorwürfe: «Man wollte uns als Querulanten abtun»
Im April haben sich das Kantonsspital Aarau (KSA) und der Neurochirurgie-Chefarzt Javier Fandino getrennt. Über die Hintergründe der Trennung wurde Stillschweigen vereinbart. Mit der Zeit drangen aber immer mehr Vorwürfe an die Öffentlichkeit. Seit vorletzter Woche hat der Fall eine politische Dimension: Das Gesundheitsdepartement hat ein Aufsichtsverfahren eröffnet, nachdem zwei ehemalige KSA-Ärzte in einem Schreiben an Regierungsrat Jean-Pierre Gallati schwere Vorwürfe gegen Fandino und die Spitalleitung erhoben haben.
Einer der ehemaligen KSA-Ärzte ist Andreas Huber. Als er 2018 pensioniert wurde, war er nicht nur Chefarzt Labormedizin, sondern auch stellvertretender CEO. Damit war er selbst Teil jener Geschäftsleitung, die er heute kritisiert. Huber empfängt die AZ bei sich zuhause auf dem Balkon mit Blick über die Stadt Aarau zum Gespräch.
Sie haben zusammen mit einem anderen ehemaligen KSA-Arzt in einer Aufsichtsanzeige schwere Vorwürfe erhoben. Bis jetzt wusste man nicht, wer die Absender sind. Warum outen Sie sich?
Andreas Huber: Da mein Name in diesem Zusammenhang schon in der «NZZ» genannt wurde, will ich den Vorwürfen ein Gesicht geben. Mal abgesehen davon: Wer mich kennt, weiss, dass ich dahinterstecke, und im Spital weiss man es auch.
Was ist passiert, seit Sie das Schreiben abgeschickt haben?
Wir haben einen Brief vom Gesundheitsdepartement erhalten, in dem wir aufgefordert wurden, bis am 25. September Fakten zu liefern. Wir sind nun daran, diese zusammenzutragen. Wir werden dem Kanton sicher auch Empfehlungen abgeben, wo er genauer hinschauen oder bei welchen Stellen er nachfragen soll. Danach bin ich froh, wenn ich nichts mehr damit zu tun habe.
Wie kam es überhaupt zur Aufsichtsanzeige?
Bevor wir uns an Jean-Pierre Gallati gewandt haben, hatten wir drei Gespräche mit Peter Suter, dem Verwaltungsratspräsidenten des KSA. Das erste Mal Ende Januar 2020. Bei der letzten Sitzung waren auch zwei weitere Mitglieder des Verwaltungsrates anwesend. Wir sind mit unserem Anliegen aufgelaufen. Ein richtiger Dialog auf Augenhöhe hat nicht stattgefunden. Mails und Anrufe wurden zum Teil gar nicht beantwortet. Man wollte uns als Querulanten abtun. Wir waren enttäuscht und wussten nicht mehr, wie etwas bewegt werden könnte. Deshalb haben wir uns an die Politik gewandt.
Das KSA und Javier Fandino haben ihre Zusammenarbeit Ende April beendet. Eine Folge Ihrer Intervention?
Was zur Trennung geführt hat, weiss ich nicht. Aber Peter Suter wirkte schon bedrückt, nachdem wir ihm im Februar zum zweiten Mal unsere Sicht präsentiert hatten. Ich gehe davon aus, dass er weitere Abklärungen und Erhebungen unternahm, die schliesslich zur Trennung und sofortigen Freistellung führten. Gleichzeitig haben wir dem Verwaltungsrat aber von Anfang an gesagt, dass es uns nicht um Javier Fandino als Person geht. Wir kritisieren das System, das ein solches Verhalten ermöglicht und toleriert, wie unlängst auch in Zürich und Genf (Anmerkung der Redaktion: Am Unispital Zürich soll Klinikchef der Herzchirurgie Francesco Maisano Eingriffe mit selbst entwickelten Implantaten beschönigend dargestellt haben. Am Genfer Unispital soll Chefarzt Thierry Berney illegal geforscht haben).
Und mit diesen Vorwürfen sind Sie aufgelaufen. Haben Sie eine Erklärung, warum?
Es ist eine Defensivhaltung, die ich nicht verstehe. In den letzten drei Jahren habe ich besorgt festgestellt, dass am KSA ein gravierender Kulturwandel stattgefunden hat, der nicht zu meinen Wertvorstellungen passt. Wir wurden von den drei Verwaltungsratsmitgliedern als Erstes gefragt, was unsere Motivation sei. Dass sich zwei Pensionierte einmischen, empfanden sie – so mein Eindruck – mehr als Belästigung. Auf unsere Anfrage, was denn die Motivation für die Tätigkeit im Verwaltungsrat sei, kam nie, auch nicht auf Nachfrage, eine Antwort.
Tatsächlich könnten Sie auch einfach Ihren Ruhestand geniessen und sagen: Was am KSA passiert, geht mich nichts mehr an. Warum fühlen Sie sich dennoch verantwortlich?
Mir sind Vorgänge am KSA bekannt, welche zurzeit in der Geschäftsprüfungskommission des Grossen Rates aufgearbeitet werden und die Ende September öffentlich werden. Wenn das Management solche Aktivitäten zulässt oder sie sogar noch deckt, muss das thematisiert werden. Ich wollte mich nicht dem Vorwurf aussetzen, nichts getan zu haben, obwohl ich alles gewusst habe.
Was müsste eine Spitalleitung Ihrer Meinung nach tun, wenn sie von solchen Vorwürfen erfährt?
Sie muss sie ernst nehmen und sofort Konsequenzen ziehen. Ich bin überzeugt, dass es dann aufhören würde. Es handelt sich immer um einzelne schwarze Schafe. Deren Verhalten ist schlecht für das ganze Spital. Das habe ich auch im Zusammenhang mit der Chefarztaffäre so gesehen (Anmerkung der Redaktion: betrifft den ehemaligen Chefarzt Angiologie am KSA). Eine Spitalleitung darf nicht tolerieren, dass einer falsch abrechnet. Wenn einer das darf, dürfen das alle anderen auch.
Sie hegen also keinen persönlichen Groll auf das KSA?
Im Gegenteil. Ich will dem KSA nicht schaden, sondern das Spital vor noch mehr Schaden bewahren. Ich habe 25 Jahre am KSA gearbeitet. Mein Herzblut ist in diesem Spital. Ich habe es gern. Ich wünsche mir ein starkes KSA, welches der Bevölkerung des Kantons und darüber hinaus eine hochwertige Medizin anbieten kann.
Wie haben Sie eigentlich von all den Vorwürfen erfahren?
Es waren Whistleblower, die uns über die Missstände informiert haben. Erstaunlicherweise erfahre ich, seit ich selbst nicht mehr am KSA tätig bin, mehr als vorher.
Sie waren vor Ihrer Pensionierung immerhin stellvertretender CEO. Da müsste der eine oder andere Vorwurf, der jetzt im Raum steht, doch mal Thema gewesen sein.
Als stellvertretender CEO war ich so etwas wie der Aussenminister. Ich war zuständig für die Verbände, Fachgesellschaften und Behörden oder wenn es um spitalübergreifende Dinge ging. Probleme mit einzelnen Kliniken, Instituten oder Abteilungen wurden in der Geschäftsleitung zwar gelegentlich thematisiert, dann aber zwischen CEO und Bereichsleiter geregelt. Personelle Probleme waren aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sowieso kaum Thema. Sie wurden direkt durch den CEO und den Personalchef geregelt. Von heiklen Themen wusste ich als stellvertretender CEO nichts.
Stand jetzt handelt es sich um Vorwürfe. Was macht Sie so sicher, dass sie stimmen?
Wir haben das gründlich angeschaut und die verschiedenen Punkte sorgfältig überprüft, bevor wir den Verwaltungsrat und schliesslich den Regierungsrat über die Vorfälle informierten. Ich habe kein Interesse daran, jemanden grundlos anzuschwärzen.
Haben Sie auch gezweifelt?
Ich habe mich immer wieder selbst hinterfragt. Aber in den letzten acht Monaten haben wir viele Fakten gesammelt und mit Fachleuten gesprochen, welche die Vorwürfe untermauern.
Javier Fandino streitet die Vorwürfe ab. Er sagte zur AZ unter anderem, er habe alle seine Patientinnen und Patienten aufgeklärt.
Der Risikomanager weiss, dass es mindestens teilweise keine Aufklärungsbögen gibt. Er hat den CEO mehrmals darüber informiert. Auch die Geschäftsprüfungskommission weiss davon. Wenn nun im Rahmen des Aufsichtsverfahrens die Patientenakten angeschaut werden, lässt sich das überprüfen.
Sie haben vorher den Kulturwandel am KSA angesprochen. Was hat sich verändert, seit Sie weg sind?
Gegen aussen ist die Rede vom «Wir-Gefühl». Aber die Hierarchien wurden immer steiler. Das hat angefangen, als die Geschäftsleitung 2018 neu aufgestellt wurde. Sie wurde von zwölf auf acht Mitglieder verkleinert. Die Ärzteschaft wurde aus der Geschäftsleitung rausgeworfen. Im Nachhinein muss ich mir den Vorwurf machen, dass ich diese Neuausrichtung damals nicht entschieden bekämpft habe. Seither hat sich der Fokus stark auf die Finanzen verschoben. Zudem hatte ich jüngst viele Kontakte mit Mitarbeitenden des KSA, die von einer Stimmung der Angst sprechen.
Im Hinblick auf die anstehenden Investitionen am KSA sind die Finanzen ein wichtiges Thema.
Sicher. Aber ich habe Mühe, wenn alles nur noch von den Finanzen getrieben ist. In einem Spital stehen die Patientinnen und Patienten im Vordergrund. Die Geschäftsleitung und der Verwaltungsrat eines Zentrumsspitals müssen Fachkompetenz von Ethik, Pflege, Medizintechnik und Ärzteschaft haben und nicht «nur» Finanz- und Technologiekompetenz.
Regierungsrat Jean-Pierre Gallati sagte zur «NZZ», wenn grobe Unzulänglichkeiten in der Führung auftreten sollten, müssten auch personelle Änderungen ins Auge gefasst werden. Wie sehen Sie das?
Auch wenn das jetzt sehr unangenehm tönen muss: Das KSA braucht eine neue Führung. Die aktuelle Spitalleitung hat den Zustand geschaffen, der jetzt aufgearbeitet werden muss. Ein Systemwechsel hin zu einem schlanken, transparenten Management mit wirtschaftlichen und vor allem ethischen Qualitäten ist nur mit einem Personalwechsel denkbar.