
Pro Jahr gehen im Aargau einige Dutzend Anzeigen ein – braucht es nun Sozialdetektive?
Für viele Gemeinden ist die Soziale Sicherheit einer der Posten mit den höchsten Ausgaben. Das Geld soll tatsächlich auch bei denen landen, die es dringend nötig haben, da sind sich alle einig. Doch wie genau soll bei allfälligem Sozialhilfemissbrauch hingeschaut werden? Hier gehen die Meinungen auseinander.
Im Grossen Rat sind aktuell zwei Motionen zu diesem Thema hängig: Eine überparteiliche Motion verlangt, dass bei einem Verdacht auf Missbrauch Sozialdetektive eingesetzt werden können, analog etwa zu einem Verdacht bei IV-Betrug. Eine weitere überparteiliche Motion fordert, dass künftig jeder Verdacht auf Missbrauch angezeigt werden muss, und nicht wie bisher nur schwere Fälle. Beide Vorstösse werden von den linken Parteien kritisiert. Sie stünden in keinem Verhältnis zum Problem.
Noch keine Landesverweisungen wegen Sozialhilfemissbrauch
Aber wie gross ist das Problem? Strafrechtlich ist der unrechtmässige Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung mit dem unrechtmässigen Bezug von Sozialhilfe zusammengefasst. 2017 gingen bei der Aargauer Staatsanwaltschaft deswegen 40 Anzeigen ein, 2018 waren es 72. Eine Mehrheit dieser insgesamt 112 Anzeigen endete in einer rechtskräftigen Verurteilung. 58 Fälle wurden mit einem Strafbefehl erledigt. In 27 Fällen wurde Anklage erhoben. Zehn dieser Anklagen waren im Juli 2020 rechtskräftig abgeschlossen. Es resultierten sieben Schuldsprüche und drei Freisprüche.
Weiter hat die Staatsanwaltschaft 18 Anzeigen nach ersten Ermittlungen fallengelassen, weil nichts an den Vorwürfen dran war. Die restlichen Fälle wurden entweder an andere Strafverfolgungsbehörden abgegeben oder sind noch hängig. Die höchste Strafe, die ausgesprochen wurde, waren 24 Monate Freiheitsstrafe, wobei in diesem Fall noch andere Tatbestände zu beurteilen waren. Landesverweise wurden noch keine ausgesprochen. Das hat auch damit zu tun, dass die Anzeigen zwar 2017 und 2018 eingingen, die begangenen Delikte aber teils weiter zurückliegen. Der Landesverweis darf aber nur bei Delikten, die ab Oktober 2016 begangen wurden, ausgesprochen werden.
Auf rund 15000 Sozialhilfebezüger im Aargau pro Jahr kamen einige Dutzend Verdachte auf Missbrauch, die angezeigt wurden. In drei Vierteln der Fälle erhärtete sich der Verdacht. In rund 15 Prozent der Fälle war an den Anzeigen so wenig dran, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen nach kurzer Zeit einstellte.
«Die Zahl der tatsächlichen Missbrauchsfälle ist höher»
«Anzeigen lohnen sich.» Dieses Fazit zieht FDP-Grossrat Adrian Schoop aus den Zahlen. Das zeige allein schon die Tatsache, dass sich 75 Prozent der Anzeigen erhärteten. Diese «Erfolgsquote» sei eigentlich sogar zu hoch, findet er, insbesondere weil Sozialhilfemissbrauch schwierig nachzuweisen sei. «Das zeigt, dass aktuell nur angezeigt wird, wenn man sich ziemlich sicher ist.» Die Zahl der tatsächlichen Missbrauchsfälle sei bedeutend höher, ist er überzeugt.
Darum solle mehr angezeigt werden. Im Zweifelsfall lieber einmal zu viel als zu wenig. Dann würde die Staatsanwaltschaft zwar auch mehrere Fälle wieder fallenlassen, weil nichts an den Verdachten dran ist, in absoluten Zahlen würden aber auch mehr Missbrauchsfälle aufgedeckt und geahndet werden. «Es geht nicht darum, Sozialhilfebezüger unter Generalverdacht zu stellen. Sondern darum, diejenigen zu schützen, die ehrlich sind und dringend auf dieses Geld angewiesen sind», sagt Adrian Schoop.
«Anzeigen sind nicht zwingend immer das richtige Mittel»
Einen ganz anderen Schluss zieht Grossrat Severin Lüscher (Grüne). «Sozialhilfebezüger sind weder krimineller noch weniger kriminell als andere Menschen.» Die Kriminalitätsrate liege im Promille-Bereich, ähnlich wie bei anderen Delikten, etwa bei Betrug oder Selbstanzeigen wegen Steuerhinterziehung. Sozialhilfebezüger würden zudem allein durch ihre Situation schon besser kontrolliert werden als andere. Dadurch würden heute schon die meisten Fälle ans Tageslicht kommen, glaubt er. Eine weitere Verschärfung der Kontrollmassnahmen sei fragwürdig. Bei der Sozialhilfe solle genau hingeschaut werden. «Aber es soll ein vergleichbarer Aufwand betrieben werden wie bei vergleichbaren Delikten.»
Und da Sozialhilfebezüger eben gerade nicht krimineller seien als andere Menschen, stellt er die Frage in den Raum, ob es denn verhältnismässig sei, bei einem Verdacht auf Missbrauch Detektive auf sie anzusetzen. Insbesondere, weil es im Vergleich zu etwa Steuerbetrug um eher tiefe Summen geht. «Ich finde es wichtig, dass genau hingeschaut wird bei der Sozialhilfe. Aber wieso dann nicht ebenso genau beim Thema Steuerehrlichkeit?»
Weiter fragt sich Lüscher, ob Anzeigen das richtige Vorgehen bei Ungereimtheiten sind: «Ermessen ist in der Sozialen Arbeit ein wichtiges Werkzeug. Es muss der beste Weg gefunden werden, die Menschen auf den Weg in Eigenverantwortung und Selbstständigkeit zu bringen. Anzeigen sind nicht zwingend immer das richtige Mittel.»