Ralph Stöckli: «Im Schweizer Team hat es eine Stabsübergabe gegeben»

Ralph Stöckli, welches Fazit ziehen Sie vom Schweizer Auftritt in Tokio?

Es liegt auf der Hand, dass mein Fazit positiv ausfällt. Mich freut ausserordentlich, dass im Schweizer Team so etwas wie eine Stabsübergabe stattgefunden hat. Eine neue Generation von Athletinnen und Athleten war verantwortlich für die Podestplätze. Für sämtliche Schweizer Medaillengewinner war es eine Premiere. Das stimmt zuversichtlich für die Zukunft. Ich bin überzeugt, dass man von einigen Namen auch 2024 in Paris hören wird.

Die positive Medaillenbilanz basiert auf sehr viel Frauenpower!

Das ist auffällig. Wir werden die Gründe nun detailliert analysieren. Einige liegen auf der Hand, etwa die besseren Rahmenbedingungen beim Spitzensportangebot der Armee. Und die Gesellschaft in der Schweiz hat sich in den vergangenen 20 Jahren verändert. Die sportlichen Aktivitäten der Frauen haben enorm zugelegt. Die Basis, welche Topleistungen im Spitzensport erst ermöglicht, ist vorhanden.

War die Zielsetzung mit 7+ Medaillen zu defensiv?

Wir wussten, dass wir diese 13 Medaillen in den Beinen haben. Aber es bleibt unglaublich schwierig, am Tag X diese Leistung tatsächlich abzurufen. Dass uns dies gelungen ist, hat sicherlich mehrere Gründe. Ein entscheidender Faktor ist, dass die Schweizer Sportverbände unglaublich gute Arbeit in der Talentselektion machen. Da gehören wir zu den Weltmeistern. Ich denke, wir haben noch Potenzial, wenn es dann an die weitere Entwicklung und an das Heranführen an die Weltspitze geht.

Welche Leistungen haben Sie am meisten überrascht?

Ich fand die beiden Medaillen im Schwimmen unglaublich. In diese Weltsportarten wird von grossen Nationen so viel investiert. Aber auch die Leistungen in der Leichtathletik. Ich bekomme heute noch Hühnerhaut, wenn ich an den Final über 100 m zurückdenke. Zwei Schweizer Athletinnen am Start – noch vor wenigen Jahren unvorstellbar. Das sind Momente, die bleiben.

Wie kann man dieses Niveau im Hinblick auf Paris 2024 halten?

Man darf sich jetzt auch einmal kurz auf die Schultern klopfen. Aber wichtig ist, bescheiden und selbstkritisch zu bleiben. Die Olympische Bühne bleibt ein Eiertanz. Es gab auch Momente, in denen wir realisierten, wie nahe Erfolg und Misserfolg beieinander stehen. Für uns bleibt der langfristige Erfolg im Zentrum. Wir haben als wichtige Basis in der Schweiz ein unglaublich gutes Zusammenspiel zwischen Breiten- und Leistungssport. Es wird aber sehr grosse Anstrengungen brauchen, um diesen Erfolg langfristig zu sichern.

Wo kann man sich verbessern?

Wir können in der kleinen Schweiz noch sehr viele Mehrwerte schaffen, wenn wir konsequent Synergien nutzen. In der Zusammenarbeit unter den Sportverbänden gibt es noch sehr grosses Potenzial. Ein solches erkenne ich auch in der Innovationskraft. Wir sind ein sehr, sehr innovatives Land. Aber der Spitzensport profitiert davon noch zu wenig.

Gibt es organisatorische Lehren aus den durch Covid geprägten Spielen?

Ja, die gibt es. Augenfällig war, wie sehr sich die Sportler auf sich und ihre Aufgaben fokussiert haben. Das fehlende Drumherum hat geholfen, den Fokus nicht zu verlieren. Ich bin überzeugt, dass dies mit ein Grund für die tollen Leistungen ist.

Wie sehr hat der Schweizer Sport von der Handhabung der Corona-Pandemie im Land profitiert?

Eine sehr spannende Frage, die wir noch nicht abschliessen beantworten können. Gefühlt hatten wir diesbezüglich sicher keinen Nachteil. Die Schweiz ist aus Sicht des Sports unglaublich gut mit dieser Pandemie umgegangen. Der Bund hat ein grosses Augenmerk auf den Sport gelegt und das möglich gemacht, was realistisch war. Der Sport hat auch vom Stabilisierungspaket profitiert.

Gibt es Bemühungen, mehr Stellen für Zeitsoldaten zu bekommen und denkt man auch über weitere Zusammenarbeiten etwa mit dem OYM in Cham nach?

Es gibt grosse Bemühungen, über solche Synergien einen Mehrwert zu schaffen, um international weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben. Es läuft ein grosses Projekt unter dem Arbeitstitel «Schweizer Olympiazentrum». Wir sind überzeugt, dass wir Angebote und Dienstleistungen für Athleten an verschiedenen Orten der Schweiz besser zusammenfassen müssen. Netzwerke müssen gespannt werden. Der Exekutivrat von Swiss Olympic wird im September über dieses Projekt entscheiden.

Und ein Ausbau des Sportangebots der Armee?

Da waren wir zuletzt sehr erfolgreich. Es hat eine enorme Weiterentwicklung stattgefunden. Der Zugang des Spitzensports zu Armeeangeboten konnte verdoppelt werden. Hier geht es primär darum, dieses System optimal zu nutzen. Es ist nicht der Moment, um jetzt weitere Forderungen zu stellen.

Zwei Schweizer Leichtathleten durften wegen Dopingsperren in Tokio nicht starten. Kann man auch daraus etwas lernen oder muss man das einfach abhaken?

Das wäre falsch. Einerseits zeigen die Fälle, dass das System funktioniert. Aber diese zwei Fälle sind zwei Fälle zu viel. Das darf nicht passieren, das wollen wir nicht in der Schweiz. Wir müssen mit aller Kraft und Konsequenz weiter in die Prävention investieren.

Was war für Sie die grösste Enttäuschung in Tokio?

Die zwei Dopingfälle haben mich persönlich sehr getroffen. Es sind zwei Botschafter des Schweizer Sportsystems. Diese zwei Vorfälle gleich zu Beginn der Spiele haben mich nachdenklich gestimmt.

Was bleibt sonst noch von diesen Spielen?

Wie intensiv die Atmosphäre im Olympischen Dorf war. Man hat trotz Covid Spiele erlebt, wie man sie sonst auch kennt. Mit Ausnahme der Maske war das Leben im Dorf so wie immer. Die Athletinnen und Athleten werden auch aus Tokio unglaublich intensive Erlebnisse mit nach Hause nehmen. In bin überzeugt, die Sportler werden nicht in erster Linie von Pandemiespielen sprechen.