Rassismus, Lügen, aber auch viel Lob: Was sich Kontrolleure im Aargau alles anhören müssen oder dürfen

David Wiedemeier ist seit knapp zehn Minuten im Dienst. Im zweiten Bus, den er kontrolliert, wird ein Fahrgast ausfällig. Nicht, weil er kein Billett hätte. Sondern weil er von Wiedemeier als Erster kontrolliert wird, und nicht etwa die Sitznachbarin.

Wiedemeier bleibt ruhig. Nach einem kurzen Gespräch kontrolliert er das Ticket – alles in Ordnung – und geht, ohne eine Miene zu verziehen, zum nächsten Fahrgast.

Seine Hautfarbe, die sei regelmässig ein Thema, erzählt der 32-Jährige Badener. Er würde aber beides zu hören bekommen: Anfeindungen, er sei doch sowieso nicht von hier, ihm müsste man gar nichts zeigen. Und Schmeicheleinheiten, er sei doch ein Bruder, man müsse doch jetzt gerade nicht kontrolliert werden.

«Ich finde beides dumm», sagt Wiedemeier.Am Mittwoch war «Kontrolltag» im Aargau. Die ÖV-Anbieter im ganzen Aargau führten gezielte Kontrollen durch. Solche Aktionen finden immer Mal wieder statt. Nicht nur, um die Pendlerinnen und Pendler daran zu erinnern, doch bitte Billette zu kaufen. Sondern auch, um das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste zu erhöhen.

Spontan wird entschieden, welche Linie kontrolliert wird

In Aarau, kurz vor 16 Uhr, es ist über 30 Grad heiss, warten sie zu dritt im Schatten eines Containers auf Schichtbeginn. Wiedemeier, Dominik Grenacher und eine Kollegin. Sie arbeiten für die Aargau Verkehr AG. Sie kontrollieren heute die Region Aarau. Denn auch für den Busbetrieb Aarau machen sie die Kontrollen.

Den Lead hat Wiedemeier. Er bestimmt, welchen Bus oder Zug sie kontrollieren, wie weit sie fahren und wo es als Nächstes hingeht. Eine App zeigt ihm jeweils sämtliche Anschlussverbindungen.

Smartphones sind aus dem Alltag der Kontrolleure nicht mehr wegzudenken.

Smartphones sind aus dem Alltag der Kontrolleure nicht mehr wegzudenken.

Alex Spichale

Das Handy ist für Wiedemeier aber nicht nur deswegen unverzichtbar geworden. Seit einem Jahr arbeitet er für die Aargau Verkehr AG. Vorher war er fast zehn Jahre lang bei den SBB. Online-Billette, Easy-Ride, Swiss Pass, oder aus dem guten alten Automaten: Es gibt mittlerweile zig verschiedene Billette.

Das bedeutet auch, dass Wiedemeier viel genauer hinschauen muss.

«Früher konnte mir jemand in einem vollen Zug beim Herausgehen sein Billett zeigen»,

sagt er. Damit war die Sache erledigt. Heute ist das schwieriger. Und streikt die Technik einmal, haben sich die Kontrollen sowieso erledigt.

Beleidigungen und Drohungen kommen vor

Den Zug nach Suhr betritt Wiedemeier durch die hinterste Tür. Die Kollegin und Grenacher steigen weiter vorne ein. Bei den Kontrollen stehen sie so, dass sie sich immer gegenseitig im Auge haben. Nur für den Fall.

Dass Situationen eskalieren, komme aber äusserst selten vor, betont Wiedemeiers Kollegin. Viel häufiger seien Lob und Dankbarkeit. Die allermeisten sind sowieso mit Billett unterwegs. Und auch die ohne, die seien in der Mehrheit anständig, würden sich teils sogar entschuldigen. Es sei eine winzige Minderheit, die anders reagiert.

Die allermeisten Aargauerinnen und Aargauer sind mit Billet unterwegs.
 
Und verhalten sich bei den Kontrollen anständig.
 
 
Trotzdem: Es hat einen Grund, dass an dieser Stelle nur von «Wiedemeiers Kollegin» die Rede ist. Oder dass sie auf keinem Foto zu sehen ist. Das war ihr Wunsch. Sie wohnt in der Region. Und Beleidigungen, Anfeindungen und Drohungen wegen des Berufs, die gibt es eben auch. Auch nach Feierabend. Man kennt die Kontrolleure. Auch wenn die Ausweise an ihrer Uniform keinen Namen zeigen, nur eine Nummer.

Masken erschweren das Kontrollieren

In den kurzen Pausen, wenn Wiedemeier auf einen nächsten Bus wartet, gibt es kaum Schutz vor der glühenden Sonne. In den moderneren, klimatisierten Bussen ist es etwas besser. In den älteren eher noch schlimmer. Er trägt lange Hosen, geschlossene Schuhe und eine Veste über dem T-Shirt.

Lange Hosen, geschlossene Schuhe: Bei der Arbeit Pflicht. Egal wie warm es ist.

Lange Hosen, geschlossene Schuhe: Bei der Arbeit Pflicht. Egal wie warm es ist.

Alex Spichale

Während der Bus beschleunigt und wieder abbremst, hält sich Wiedemeier mit einer Hand fest, mit der anderen kontrolliert er mit dem Handy die Billette. Alle Gäste grüsst er mit einem Lächeln. Wobei man das Lächeln wegen der Maske natürlich nicht sieht.

Das habe einiges schwieriger gemacht, erzählt er. «Der Humor kommt mit Maske nicht an.» Kommt dazu, dass die Aussprache wegen der Maske undeutlicher wird. Und schon würde man unfreundlich wirken.

Kein Bus ohne Schwarzfahrer

Rund 1,5 Stunden begleiten wir das Team von Bus zu Zug zu Bus. Etwa 20 bis 30 Personen werden pro Gefährt kontrolliert. Die Bilanz ist einigermassen ernüchternd. Auf keiner einzigen kontrollierten Fahrt haben sämtliche Passagiere ein Billett. Wobei manche natürlich auch einfach ihr Abo vergessen haben.

Die drei Teams, die am Mittwochnachmittag in der Region Aarau unterwegs sind, werden am Ende des Tages 1112 Fahrgäste kontrolliert haben. 32 davon ohne gültiges Billett. Das entspreche in etwa den Erfahrungen: Jeweils ab Mitte Monat, wenn der letzte Zahltag etwas länger her ist, würden vermehrt Leute schwarzfahren.

Noch vor einiger Zeit sei die Situation noch schlimmer gewesen, erzählt Grenacher. Nämlich dann, als die Aargau Verkehr AG anfing, für den Busbetrieb Aarau zu kontrollieren. Seither habe man erreicht, dass die Schwarzfahrerquote nun ähnlich ist wie in anderen Regionen.

Zahlen dazu gibt es keine. Es gibt nur die Statistik zum ganzen Kanton. Knapp 1,5 Millionen Fahrgäste werden jährlich im Aargau kontrolliert. Die Schwarzfahrerquote liegt bei etwa zwei Prozent, Tendenz steigend. 2020, im Coronajahr, betrug sie über drei Prozent.

So viele Menschen im Aargau fahren schwarz

Jahr Fahrgäste (in Mio.) kontrollierte Fahrgäste (in Mio.) Schwarzfahrer-Quote (in %)
2016 115,9 1,4 1,8
2017 118,7 1,4 2,2
2018 123,6 1,4 2,4
2019 130,5 1,4 2,6
2020 92,4 1 3,1
Quelle: Aargau Verkehr AG


Als der ÖV wegen der Pandemie sein Angebot einschränkte, wurden auch die Kontrollen weniger. Die SBB verzichteten ganz darauf. Nicht so Aargau Verkehr. Denn sind bei den SBB Zugbegleiter und Bahnpolizei getrennt, gibt es bei Aargau Verkehr eine Mischform. Wiedemeier muss sowohl Billette kontrollieren als auch die Sicherheit gewährleisten.

Deshalb hat er auch mehr Kompetenzen als Zugbegleiter, und ist zum Selbstschutz mit Kamera und Pfefferspray ausgerüstet. Er hat aber weniger Kompetenzen als die Polizei. Er darf Personen festhalten, nicht aber verhaften.

Die Kamera wird nur bei aussergewöhnlichen Situationen eingeschaltet und dient dem Schutz der Kontrolleure.

Die Kamera wird nur bei aussergewöhnlichen Situationen eingeschaltet und dient dem Schutz der Kontrolleure.

Alex Spichale

Die Teams von Aargau Verkehr waren auch während der Pandemie unterwegs. Sie haben in dieser Zeit Leute kontrolliert, die meinten, nun ohne Billette fahren zu können. Auch mussten sie ganze Gruppen von Jugendlichen aus den Zügen verweisen, die meinten, dort Partys feiern zu können, während im öffentlichen Raum Ansammlungen von Gruppen verboten waren. Und als die Pandemie abflachte und die Kontrollen zunahmen, habe man auch mehr Schwarzfahrer festgestellt.

«Grundsätzlich ist der Job ganz cool»

Schwer atmend steigt ein Mann in den Bus ein, in dem Wiedemeier und Kollegen bereits kontrollieren. Er setzt sich ganz hinten hin und beginnt, als er die Kontrolleure sieht, auf seinem Handy ein Billett zu lösen.

Als die Kontrolleure ankommen, streckt er grinsend das Handy entgegen: «Ich habe jetzt ein Billett.»

Doch das gilt nicht. Wer einen Bus betritt, muss entweder ein Billett haben, oder aber direkt zum Automaten gehen. Die Apps zeigen auf die Sekunde genau an, wann ein Billett gelöst wurde. So sollen genau solche Fälle verhindert werden.

Der Mann will es nicht wahrhaben. Minutenlang diskutiert er, wird zwischendurch laut. Am Ende wird er trotzdem gebüsst. Da sei die Frage erlaubt: Wenn man sich Tag für Tag im schüttelnden Bus bei über 30 Grad so etwas anhören muss: Wieso um alles in der Welt wird man Kontrolleur? Der Beruf scheint ähnlich verlockend wie derjenige des Schiedsrichters im Fussball.

Mag seinen Job: David Wiedemeier.

Mag seinen Job: David Wiedemeier.

Alex Spichale

«Grundsätzlich ist der Job ganz cool», sagt Wiedemeier. «Das Büro ist immer dasselbe, aber der Innenraum verändert sich jeden Tag.» In der Nacht hat er andere Kunden als am Tag, immer wieder erlebt er neue Situationen. Und auch wenn man sich unbeliebt mache: «Am Ende des Tages ist die Dankbarkeit immer noch grösser als alles andere.»

Märchenstunde im öffentlichen Verkehr

Noch einmal betritt Wiedemeier den Zug nach Suhr. Eine junge Frau ohne Billett erzählt: Ihr Auto sei gerade abgelegen. Sie habe keine Erfahrung im Zugfahren, habe nicht gewusst, wie das Billett zu lösen sei.

Man möchte ja niemandem etwas unterstellen, aber man würde halt schon sehr viele Lügen hören, sagt Grenacher. Die Klassiker:

«Ach, hier braucht man ein Billett?»

Oder:

«Ach, hat meine Mama das nicht getan?»

Wiedemeier hat aber auch schon anderes gehört. Im Bus Richtung Spital erzählte ein Mann, sein Sohn liege dort, schlimm verunfallt, er würde ihn besuchen. Und auf der Strecke retour erzählte er, er würde nun Kleider für ihn holen gehen.

«Ich glaubte ihm zu Beginn noch, ich hatte Mitleid, hatte zu diesem Zeitpunkt selbst frisch Kinder.» Stunden später erzählte derselbe Mann auf derselben Strecke dieselbe Geschichte.

Und ganz selten komme es auch vor, dass Passagiere gewalttätig werden. In seinem Jahr bei Aargau Verkehr hat Wiedemeier das aber noch nicht erleben müssen.

Trotzdem: Ob er nicht Angst habe bei seinem Job? Angst nicht, eher Frust. Dass es so wenig brauche, bis die Leute lügen oder unhöflich werden.

«Die Leute könnten ja einfach sagen, dass sie kein Billett haben, sie müssten mir ja nicht einmal einen schönen Tag wünschen. Aber wieso lügen?»

Eine Vermutung hat er: Diese Personen hätten gar nichts gegen die Kontrolleure. Sie würden sich ertappt fühlen in einer Situation, die sie nicht erwartet hatten. Und das sei ihre Art, damit umzugehen.

Als der Zug zurück in Aarau ist, macht die Gruppe eine kurze Pause mit viel Wasser. Danach macht sie sich auf, die nächsten Busse und Züge zu kontrollieren.