Schrittchen vor dem Abgrund

Wenn es um Athletinnen und Athleten oder um Sportteams geht, würde ich persönlich das inflationär gebrauchte Wort «Held» nie in den Mund nehmen. Das wiederum heisst aber nicht, dass ich die Leistungen der Schweizerinnen und Schweizer an den Olympischen Spielen in Tokio nicht bewundere. Zwölf Medaillen – neun davon von Frauen – nach gut der Hälfte der Spiele sind ein beeindruckender Wert. Doch es sind nicht nur die Wettkämpfe, die mit Medaillen für die Eidgenössische Delegation geendet haben, die mich bisher faszinierten. Dass zum Beispiel der 100-m-Final der Frauen mit zwei Teilnehmerinnen aus der «Sprintnation» Schweiz und nur einer US-Amerikanerin über die Bühne ging, hätte ich vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten. Dieses Erfolgserlebnis bringt aber auch die Kritiker wieder an die Oberfläche. Wenn eine Ajla Del Ponte an Olympischen Spielen erstmals unter 11 Sekunden läuft und mit 10,91 einen Schweizer Rekord aufstellt, ist das fast zu schön, um wahr zu sein. Sie finden die Zweifel unfair und unangebracht? Ich eigentlich auch, die positiven Dopingproben von Kariem Hussein und Alex Wilson im Vorfeld von Olympia sorgen aber genau für solche unguten Gefühle. Wenn dann noch zumindest komisch anmutende Erklärungen für das positive Testergebnis von den Betroffenen kommen, bleibt ein bitterer Beigeschmack übrig. Sollten sich die Behauptungen der beiden Athleten aber als korrekt erweisen, stellt sich die Frage der Verhältnismässigkeit bei Dopingproben. Einmal ein «falsches» Bonbon oder einmal zu viel Fleisch und schon ist die Sperre perfekt. Oder anders ausgedrückt: Spitzensportler müssen zwar besonders aufmerksam durchs Leben gehen, aber es kann nicht sein, dass Jede und Jeder stets nur ein Schrittchen vor dem Abgrund steht.