
Schweizer konsumieren täglich 13,7 Kilo Kokain – neue Studie über Konsum, Markt und Herkunft

20 Franken kostet eine Dosis Kokain
Kokain Zahlen & Fakten
Für ein Gramm bezahlt der Konsument 100 Franken, allerdings tricksen die Dealer bei der Menge: In den meisten Fällen ist nicht mehr als 0,8 Gramm enthalten. Für eine «Line» wird 0,05 bis 0,1 Gramm berechnet. Eine Dosis kann mehrere «Lines» umfassen, das hängt vom Konsument ab. Der Preis ist in den letzten 30 Jahren stark gesunken, von 300 bis 500 Franken auf heute 100 pro Gramm.
87 Prozent der Proben mit Entwurmungsmittel
Gestreckt wird Kokain entweder mit Verdünnungsmitteln, um eine höhere Menge zu erzielen. Dazu wird meist Babymilchpulver verwendet. Meist ist es aber eine Mischung mit pharmakologisch-aktiven Substanzen, um die Wirkung zu verstärken. In neun von zehn Proben fanden die Laboranten Levamisol, ein Medikament gegen Fadenwürmer, das bei häufigem Konsum die Gesundheit gefährdet. In acht von zehn Proben konnte Phenacetin nachgewiesen werden, ein Schmerzmittel, das euphorisierend wirkt, wegen gesundheitsschädigender Wirkung aber nicht mehr gehandelt wird.
13,7 Kilo pro Tag in der Schweiz
Der Konsum unterscheidet sich unter den Koksern stark. Im Schnitt konsumiert ein regelmässiger, sozial gut integrierter Kokser 230 Gramm pro Jahr. Das sind pro Woche 4 Gramm Kokain. Sie zählen zu einer Minderheit. Die Mehrheit der Konsumenten (80 Prozent) snifft nur gelegentlich Kokain, weniger als ein Mal pro Woche, rund 10 Gramm pro Jahr. Trotzdem werden jährlich 5 Tonnen Kokain in der Schweiz konsumiert, das sind 13,7 Kilogramm täglich. Die Schweizer Städte Basel, Bern, Genf, St. Gallen, Zürich gehören nachweislich zu den Orten, wo europaweit am meisten gekokst wird. 28-39 Millionen Gewinn alleine in der Waadt
28-39 Millionen Gewinn alleine in der Waadt
Zwischen 47 und 57 Millionen Franken setzt der Kokain-Markt in der Waadt jährlich um, wie die Studienautoren schätzen. Das werfe einen Gewinn von 28 bis 39 Millionen für Händler und Zwischenhändler ab.
1480 Franken pro Gramm pures Kokain
Auf dem Weg vom Produzenten zum Konsumenten wird das Kokain mehrmals gestreckt, nicht erst in der Schweiz. Da das Pulver eine deutlich höhere Reinheit aufweist, wenn es die Drogenlabore Südamerikas verlässt, wird es auch in Europa, meist in Häfen von Spanien oder den Niederlanden mit anderen Stoffen gemischt. Dadurch variiert der Preis für reines Pulver stark. Auf dem Waadtländer Drogenmarkt kostet ein Gramm pures Kokain zwischen 79 Franken und 1480 Franken. Das zeigt zudem, dass der Preis nicht zwingend mit der Qualität korrespondiert.
1,5 Kilogramm im Körper versteckt
Der Grossteil des nach Europa geschmuggelten Kokains landet in den grossen Frachthäfen von Spanien, den Niederlanden, aber auch Deutschland und Italien. Oft gelangen die Drogen über Bodypackers oder Mules, welche die Drogen in dichte Päckli verpackt schlucken oder in ihrem Koffer oder Auto verstecken, in die Schweiz. Die am häufigsten gehandelten Päckli wiegen 10 Gramm, sogenannte «Fingers». Ein Mule kann über hundert davon schlucken, um es über Grenzen zu schmuggeln, sie transportieren 0,5 bis 1,5 Kilogramm Kokain in ihrem Körper.
Nein, es sind nicht nur Banker, die sich für bessere Leistungen Kokain in die Nase ziehen. Bauarbeiter koksen genauso wie Hausfrauen und Ärztinnen. Die grosse Vielfalt der Kokainkonsumenten in der Schweiz ist eine der Haupterkenntnisse einer neuen Studie von Sucht Schweiz, die in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kriminologie der Uni Lausanne und dem Institut für Sozial- und Präventivmedizin des Unispitals Lausanne erarbeitet wurde.
Die Menge, die eine einzelne Person konsumiert, unterscheidet sich stark: Die grosse Mehrheit kokst gelegentlich, etwa am Wochenende. Im Schnitt beläuft sich die Konsumation auf rund 10 Gramm Kokain pro Jahr – was laut Experten für die Gesundheit unbedenklich ist. 20 Prozent der Konsumenten koksen aber deutlich mehr.
Die Studienautoren unterscheiden bei den regelmässigen Koksern zwischen Personen mit Drogenvergangenheit, etwa früheren Heroinsüchtigen, und Personen, die sozial gut integriert sind, Job und Familie haben – und nebenbei mehr als 4 Gramm Kokain pro Woche sniffen. Das ergibt aufs Jahr 230 Gramm.
Konsum stagniert
Untersucht haben die Forscher zwar den Markt im Kanton Waadt, die Erkenntnisse liessen sich aber weitgehend auf die Schweiz anwenden, wie Frank Zobel, Vizedirektor von Sucht Schweiz, sagt. Wenn also die Waadtländer pro Tag rund 1,3 Kilogramm Kokain einnehmen, bedeutet dies für die ganze Schweiz rund 13,7 Kilo bei 100 000 bis 150 000 Konsumenten.
Die Ergebnisse decken sich mit Untersuchungen von Abwasser, die unlängst in fünf Städten durchgeführt wurden – daraus lassen sich Rückschlüsse auf den Kokainkonsum ziehen.
Die Waadtländer Studie ist in ihrer Form einzigartig, weil sie über die Menge des Konsums hinaus Erkenntnisse liefert.
So deckt sie nicht nur die Umsätze, den Gewinn und wahrscheinliche Stundenlöhne von Drogendealern auf (34 bis 78 Franken pro Stunde). Sie beschreibt auch, wie die Ware in die Schweiz kommt, wie und in welcher Form sie geschmuggelt wird und wie das Auftreten von Nigerianern und anderen Ostafrikanern eine neue Dynamik im Markt auslöste: Die Droge wurde billiger.
Ein Gramm Kokain kostet rund 100 Franken, in den Neunzigern zahlten Konsumenten dafür noch 300 bis 500 Franken. Dass der Konsum deswegen gestiegen ist, lasse sich so nicht belegen, sagt Zobel: «Neu ist, dass Kokain für die ganze Bandbreite der Gesellschaft zugänglich ist.» Nicht nur die Konsumenten sind unterschiedlich, auch der Zugang und die Anbieter – das heisst, wo und von wem die Droge verkauft wird.
Das kann im Darknet sein, übers Telefon, per SMS und Velokurier, bei privaten Treffen oder unter Freunden. Am häufigsten ist der Kauf auf der Strasse. Zu den Dealern gehören Schweizer genauso wie Südamerikaner, Ostafrikaner oder Albaner.
Eine weitere Erkenntnis ergibt sich aus den Proben von Kokain-Kugeln, welche die Polizei beschlagnahmt hat. «Wer Kokain auf der Strasse kauft, weiss in der Regel nicht, was tatsächlich drin ist», sagt Zobel.
Die Qualität des Stoffs gleiche einer Lotterie: Die Kugeln à 1 Gramm weisen im Schnitt eine Reinheit unter 40 Prozent auf. Neun von zehn Proben enthalten das gesundheitsschädigende Entwurmungsmittel Levamisol. Und das aufputschende Schmerzmittel Phenacetin wird etwa ebenso häufig beigemischt, um Kokain zu strecken, wie Babymilchpulver.
Allerdings beobachtet Zobel, dass die Reinheit zunimmt. In Zürich zeigen die Drogen-Checks eine deutlich bessere Qualität mit fast 90 Prozent Kokain im Durchschnitt. Darauf wird auch die höhere Kokainkonzentration im Abwasser zurückgeführt.
Für Erwachsene zulassen wie in Neuseeland
Kokain ist der bei weitem umsatzstärkste Betäubungsmittelmarkt der Schweiz. Zobel sagt: «Der Kokainmarkt ist grösser als alle anderen Pillen- und Pulvermärkte zusammen.» Zu Letzteren gehören Heroin, Amphetamine, Thai-Pillen oder Ecstasy.
Die Studie soll demnach auch eine Grundlage für eine faktenbasierte Diskussion über Drogenpolitik schaffen. «Wir müssen wegkommen von den höchst emotionalen und ideologischen Debatten», fordert Zobel.
Er ist überzeugt: «Wenn wir die Situation objektiv ansehen und pragmatisch vorgehen, tun sich Lösungen auf.» Beispielsweise Zwischenschritte nach dem Vorbild Neuseeland. Dort hat die Regierung anerkannt, dass gewisse Partyleute ein Bedürfnis nach aufputschenden Drogen haben. Neuseeland plant deshalb Substanzen, die nachweislich wenig gesundheitsgefährdend sind, für Erwachsene zuzulassen.
Thilo Beck, Chefarzt Psychiatrie der Arbeitsgemeinschaft für risikoarmen Umgang mit Drogen, sagt, er könne ob des Berichts lediglich zum wiederholten Male feststellen, dass die Verbote nichts bewirken. Beck redet deshalb der Liberalisierung das Wort. Dass diese eine Lawine neuer Konsumenten auslösen könnte, hält er für realitätsfern. «Wer Kokain kaufen will, kann das heute schon problemlos tun.»
Die Beschaffung von Kokain sei vergleichbar mit dem Bestellen einer Pizza. Ihm gehe es nicht um Verharmlosung, sondern darum, der Realität ins Auge zu sehen: «Beim Koksen handelt es sich offenbar um ein Bedürfnis eines grossen Teils der Bevölkerung. Substanz-Konsum passiert.» Die Frage sei deshalb, wie Konsumenten adäquat begleitet werden können, damit sie gesund und sicher bleiben. Verbote erreichten da wenig.