Sein Gesicht erzählt mehr als tausend Worte

Er braucht in der Kleinen Bühne Zofingen weder Tisch noch Stuhl und auch kein Bühnenbild. Carlos Martinez nur schon zu Beginn in seiner imaginären Garderobe bei der Vorbereitung zuzusehen, ist eine kleine Offenbarung. Wie er sich in seinen weissen Glacéhandschuhen schminkt, pudert und im Spiegel betrachtet, lässt einen vergessen, dass hier einer alles nur aus der Luft greift. Mit seiner Mimik und Gestik kann der Künstler auf den Punkt Wiedererkennungseffekte erzeugen. Schon bald ist das Publikum in ein genussvolles Spiel mit der eigenen Fantasie verstrickt – und wir dabei immer wieder mit unerwarteten Entwicklungen überrascht.

Der Besen, mit dem der renommierte spanische Pantomime die Bühne wischt, mutiert unversehens zur Angelrute, zur Langhantel oder gar zur Balancierstange. Martinez changiert souverän zwischen Figuren und Szenerien. Jede Geste, jeder Gesichtsausdruck ist präzis gesetzt – die Körpersprache ist minimalistisch und ausdrucksstark. Der Mann mit dem weissen Gesicht macht keine Bewegung zu viel, vermeidet jeden Anflug von Theatralik. Manchmal umreisst Martinez Szenen nur skizzenhaft, andere Male baut er sie zu ausgedehnten Geschichten voller Poesie aus.

Der Besuch in einer Bibliothek wird zu einem Spiel auf mehreren Ebenen. Der Held erleidet Missgeschicke mit der Bibliotheksleiter oder beim Durchblättern der Folianten. Doch immer wieder taucht er unvermittelt in das Geschehen eines Schmökers ein und stellt dann, mit einem kurzen Lichtwechsel eingeläutet, dar, was er gerade liest. Auf einmal steht Bram Stokers Graf Dracula auf der Bühne, und muss sich einen neuen Zahn einschrauben. Mit Stevensons «Dr. Jekyll und Mr. Hyde» wir das Publikum Zeuge der furchbaren Verwandlung vom Doktor zu einem Monster. Und James Bond lässt sich nicht zwei Mal bitten und küsst sowohl die eine wie auch die andere Gespielin.

Die Zuschauerinnen und Zuschauer leiden mit dem Liebesbriefschreiber, der abblitzt mit. Selbst der Selbstmord aus Herzensschmerz misslingt ihm, denn er zählt zwar mit den Fingern der einen Hand den Moment der Schussabgabe ab, beginnt dann aber mit der zweiten Hand, die zur Pistole geformt ist, weiterzuzählen. Bis eben die Waffe nicht mehr da und es sowieso zu spät. Es sind diese kleinen poetischen Finessen, die die Geschichten von Carlos Marquez zu etwas ganz Besonderem machen.

Ganz ein Meister seiner Kunst nutzt er seine lautlose Sprache für Dinge, die nur die Pantomime – und damit keine andere Kunst – zeigen kann. Beim Besuch im Aquarium knautscht er sein Gesicht an die Scheibe und dringt dann durch das Glas hindurch ins Wasser, wo ihm die Fische in die Ohren schlüpfen.

Auch den Dialog mit dem Publikum beherrscht Martinez, weist es zum Nachahmen diverser Gesten an, nervt sich über imaginäre Anwesende, die aus der Reihe tanzen und äfft sie zum grossen Gelächter des Publikums nach. Sein Repertoire beinhaltet unzählige wunderbare Miniaturen zu universellen Themen des menschlichen Daseins. So legt einer den Leuten einen Stein in den Weg und macht sich über die Charaktere lustig, die über ihn stürzen. Gebannt hält man den Atem an, als ein Blinder kommt und fragt sich: Ist es erlaubt, sich darüber so heimtückisch lustig zu machen? Denkste: Der Blinde steigt einfach über den Stein, als hätte er ihn schon längst bemerkt.

Manchmal sehen eben die Blinden besser. Doch Carlos Martinez lässt an diesem Abend vor allem die Sehenden besser hören, riechen und schmecken, ohne dass überhaupt nur ein Geräusch ertönt oder ein Gegenstand auf der Bühne ist. Allein sein Museum der Telefonapparate wäre der Besuch wert gewesen. Oder auch seine Darstellung eines Mannes, der Masken schnitzt und sie sich zum Anprobieren auf- und wieder absetzt. Seine Darstellung einer Gruppe von Menschen, die auf den Bus warten ist ein entwaffnendes Theater der menschlichen Schwächen und Eitelkeiten. Nur eines kann Carlos Martinez mit seiner grossartigen stillen Kunst nicht verbergen: Er ist ein grosser Humanist, dem es vor allem um Menschlichkeit geht. Unter grossem Applaus entlässt er einen mit geschärftem Blick und offenen Sinnen in die Nacht.