Selektionierbar bedeutet nicht automatisch die Teilnahme – MIT AUDIO

Pascal Kamber: Mit einem Jahr Verspätung werden am Freitag in Tokio die Olympischen Sommerspiele eröffnet. Für viele Athletinnen und Athleten geht mit der Teilnahme in Japans Hauptstadt ein ersehnter Traum in Erfüllung. Auch Siebenkämpferin Géraldine Ruckstuhl aus Altbüron und der Pfaffnauer Rollstuhlathlet Fabian Blum haben in den vergangenen Jahren jeden Tag hart für ihr Olympia-Ziel gearbeitet. Obwohl beide die Selektionskriterien erfüllt haben, dürfen sie nicht nach Tokio reisen: Bei Ruckstuhl, die wegen einer Fussverletzung nicht ihr gewohntes Niveau erreichte, entschied Swiss Olympic, dass ihr Formstand eine Selektion nicht rechtfertige. Im Fall von Blum vergab Swiss Olympic die drei Startplätze für die Paralympics an Ausnahmekönner Marcel Hug, Routinier Beat Bösch und an Sprinter Philipp Handler, der jüngst seine persönliche Bestzeit über 100 m verbesserte. Logisch, ist die Enttäuschung bei Ruckstuhl und Blum riesig. Deshalb frage ich mich: Wäre es nicht sinnvoller, wenn alle Athletinnen und Athleten, die die Vorgaben erfüllen, an den Olympischen Spielen starten dürfen?

Michael Wyss: Diese Frage ist durchaus gerechtfertigt. Aber der Leitsatz vom Wiederbegründer der Olympischen Spiele, Pierre Baron de Coubertin, der heisst: «Teilnehmen ist wichtiger als siegen», gilt schon länger für die meisten Länder nicht mehr. «Ruhm und Ehre oder ein Spitzenplatz ist wichtiger als der Rest», müsste es heute heissen. Da haben Sentimentalitäten kaum mehr Platz. Das kann man gut finden oder es verfluchen, aber aus dem Sport ist längst ein milliardenschwerer Wirtschaftszweig geworden, in dem die Besten satte Gehälter verdienen, aber auch einiges in Kauf nehmen müssen. So wird in der Nachwuchsförderung nichts, aber auch gar nichts mehr dem Zufall überlassen. Kinder müssen sich schon in frühen Jahren für oder eben gegen den Spitzensport entscheiden. Bis dann ein ganz kleiner Teil in der Weltspitze angekommen ist, braucht es oft grossen finanziellen Einsatz. Dazu gehören Reisen an ferne Orte. Ohne Erfolgschance lohnt sich das nicht.

pka: Ich verstehe, dass Swiss Olympic – und auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – als Gegenzug für die finanzielle Unterstützung einen gewissen Ertrag in Form von Bestleistungen oder Medaillen sehen möchten. Schliesslich hat der Dachverband des Schweizer Sports im letzten Jahr zusätzlich zu den 46 Millionen Franken von der Sport-Toto-Gesellschaft rund 30 Millionen Franken als Beitrag für die Sportverbände sowie eine Corona-Finanzspritze von knapp 100 Millionen erhalten. Trotzdem habe ich Mühe damit, dass jemand, der sich auf reguläre Weise für die Olympischen Spiele qualifiziert hat, nicht den gerechten Lohn für all die Entbehrungen erhält. Das muss nicht zwingend Edelmetall sein: Gerade die erst 23-jährige Géraldine Ruckstuhl hätte in Tokio viele Erfahrungen sammeln können, die ihr bei den nächsten Sommerspielen 2024 in Paris zugutegekommen wären.

mwy: Das könnte sein, muss es aber nicht. Wer weiss schon, was in den nächsten drei Jahren passiert. Auch Sport bedarf einer genauen, über Jahre dauernden Planung, aber letztlich entscheidet immer das Hier und Jetzt. Und es geht nun einmal um nackte Zahlen und diese sprechen – auch wenn es hart ist – gegen gewisse Athletinnen und Athleten. Nicht zuletzt will sich die Schweiz an Olympischen Spielen im besten Licht präsentieren und nicht eine Delegation nach Japan entsenden, die unter «ferner liefen» mitmachen.

pka: Es ist einfach bitter, dass am Ende am grünen Tisch entschieden wird, ob die Athletin oder der Athlet an einem Wettkampf starten darf, der nur alle vier Jahre stattfindet. Und gerade in der aktuell schwierigen Zeit hätte ich mir von Swiss Olympic in einzelnen Fällen etwas mehr Nachsicht bei der Selektion erhofft.

mwy: Das ist ein ganz schwieriger Weg. Wo zieht man die Grenze? Und ist dann nicht der Nächstschlechtere, der es als Erster nicht schafft, ziemlich bedient? Um fair und vor allem unabhängig zu bleiben, wäre es wahrscheinlich am einfachsten, die Limiten so hoch zu setzen, dass alle Qualifizierten auch zu Olympia reisen dürfen.