Sie war das Mädel von der Tankstelle – nun verkauft sie die Liegenschaft

Die Rudi-Rüssel-Tankstelle in Schöftland. © fdu
Die Rudi-Rüssel-Tankstelle in Schöftland. © fdu

«Liegenschaft altershalber zu verkaufen.» Mit diesem Satz beginnt die Immobilienanzeige, die demnächst zu lesen sein wird. Dem Käufer des Anwesens nahe der Bahnstation Schöftland Nordweg winkt die Rudi-Rüssel-Tankstelle, die jeder Suhrentaler kennt. Hinter Rudi Rüssel geht die Parzelle jedoch noch weiter – über 1390 Quadratmeter genau. Etwas mysteriös sieht es dort hinten aus. Das grosse Haus steht leer, der Garten ist verwildert.

Verkaufen möchte das Grundstück Hanna Morgenthaler. In den frühen sechziger Jahren ist sie mit ihren Eltern von Staffelbach in das grosse Haus gezogen. Ihr Vater Willi Morgenthaler-Häuselmann hatte die Tankstelle mit Garage in Schöftland schon lange im Auge gehabt. Er hatte das im Zweiten Weltkrieg wichtige Métier des Autosattlers gelernt und träumte davon, an Nobelkarossen arbeiten zu können. «Die britische Luxusmarke Morgan, die er in seiner Lehre auspolstern lernte, hatte es ihm angetan», erinnert sich Hanna Morgenthaler. Zu der Zeit war der Krieg lange vorbei und Autosattler deutlich weniger gefragt. Stattdessen hatte Vater Willi in Staffelbach eine Polsterei und ein Möbelgeschäft eröffnet und sparte für seinen Garage. Tatsächlich stand diese dann eines Tages zum Verkauf.

Trinkgeld-Segen beim Autowaschen

 

«Ich war 13, als wir nach Schöftland zogen. Die Tankstelle vermieteten wir, mein Vater war ja kein Mechaniker.» Heute ist Hanna Morgenthaler 72. Während sie von ihrer Jugend im Haus hinter der Tankstelle erzählt, sitzt sie in ihrer Stube hoch über den Dächern von Zürich. Schon fast 30 Jahre lang wohnt sie mit ihrem Mann Richard Lee Willis hier. Ihre Schöftler Zeit ist lange her. Erinnert sie sich zurück, fallen ihr als Erstes die Namen der Ölfirmen ein, deren Schild in den Jahren über der Tankstelle hing: Gatoil, Petrofrance, Ölpool. Oder die Tankwarte, die jeder Autofahrer in der Region kannte. Etwa Tankwart Rapolani oder Toni Nöthiger. «Über 30 Jahre hat Toni Nöthiger unsere Tankstelle gemietet. Er war Teil unserer Familie, organisierte Handwerker und hat geholfen, die Liegenschaft zu verwalten», sagt Hanna Morgenthaler.

Für Hanna, die Bez-Schülerin, und später Studentin war die Tankstelle eine willkommene Einkommensquelle. Denn Mittlerweile hatte der Papa die erste Ferrum-Autowaschanlage des Suhrentals eingerichtet, wo sich die junge Dame am Wochenende ihr Taschengeld verdiente. «Viele genierten sich, ihr Auto von einer jungen Frau waschen zu lassen und gaben mir aus Schamgefühl eine Menge Trinkgeld», sagt sie und lacht verschmitzt.

Ihr Vater expandierte weiter. Er baute eine Doppelgarage mit Servicegrube und lancierte das «Schöftler Taxi», das er zusammen mit seinem Sohn betrieb. «Wir erlebten eine in Staffelbach nicht gekannte Solidarität mit den Gewerbeleuten des Dorfes», sagt die Tochter heute. «Die Leute kamen in Scharen zu uns, um zu tanken und Autos zu waschen. Sie trugen dazu bei, dass meine Eltern immer mehr Teile des Geschäfts vermieten und in Rente gehen konnten.»

Hanna Morgenthaler wurde Lehrerin und später Erziehungswissenschaftlerin und Psychoanalytikerin, wohnte erst in Aarau, zog dann nach Zürich. Ihre Eltern blieben in Schöftland. Nachdem beide verstorben waren, übernahm sie auf Wunsch ihres Bruders die Liegenschaft. Nun möchten sie und ihr Mann das Grundstück verkaufen. Und die beiden haben schon konkrete Vorschläge, was der Käufer mit der Liegenschaft anstellen könnte. Mehr noch: Es existieren skizzierte Projekte, für die Machbarkeitsstudien ausgearbeitet wurden.
 
Alterswohnungen im amerikanischen Stil

Am meisten am Herzen liegt ihnen das Projekt «Eigentumswohnungen für Senioren». Beim Modell, das ihnen vorschwebt, erwirbt der Senior die Alterswohnung, wobei nach dessen Tod das Eigentum wieder an die Geschäftsführung des Wohnkomplexes übergeht. 70 Prozent des Kaufpreises wird an die Erben ausgezahlt, mit 30 Prozent würde die Wohnung für den nächsten Senior erneuert. Für den Fall, dass die Person in ein Pflegeheim umziehen müsste, dient das Geld dazu, die Kosten abzudecken.

Die Idee dazu lieferten Hanna Morgenthalers amerikanischen Schwiegereltern. In Amerika sei dieses Modell sehr verbreitet. «Als ich es näher studierte, war ich begeistert», sagt sie. «Das Geld ist sicher angelegt, für Intensivbetreuung wäre Budget vorhanden und die Erben brauchen nicht zu entscheiden, was mit dem Haus geschehen soll.» Und: Das Konzept verleite nicht dazu, den Kindern vor dem Gang ins Altersheim das Erbe auszubezahlen, um als Bewohner weniger zur Kasse gebeten zu werden.

Eigentlich haben die beiden das Konzept ausgearbeitet, um es selber umzusetzen. Doch das Warten auf den Entscheid zur neuen Bau- und Nutzungsordnung habe zu lange gedauert. Verloren soll die Idee aber nicht sein. Deshalb will Hanna Morgentaler sie potenziellen Käufern schmackhaft machen. Immerhin: In der neuen BNO ist die Liegenschaft in der Wohn- und Arbeitszone drei, man dürfte also einen Stock höher bauen.

Auch eine andere Verwendungsmöglichkeit klingt innovativ. Bezahlbare Wohnungen mit einem 24-Stundenshop im Erdgeschoss. Dort würden regionale Produkte aus den Dorfläden angeboten, die via Self-Checkout rund um die Uhr bezogen werden könnten.

Vor 60 Jahren zog eine Staffelbacher Familie nach Schöftland auf eine Tankstellenliegenschaft. Ihre Mieter sind dem Dorf heute noch ein Begriff. Der nächste Eigentümer erhält jetzt die Chance, ebenfalls Bedeutung zu erreichen.