
Staatsrechtler über mögliche Impfzwänge: «Man kann nicht auf jeden Einzelnen Rücksicht nehmen»
Wohl jeder kennt Impfunwillige in seinem Umfeld. Im Ständerat war diese Woche die Rede davon, dass die Massnahmen die Grundrechte ritzen. Was sagen Sie dazu?
Urs Saxer: Grundrechte gelten nicht unbeschränkt, Einschränkungen sind in der Verfassung unter Artikel 36 definiert und stützen sich auf gewisse Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. Wie zum Beispiel die Verhältnismässigkeit.
Sind die Massnahmen also verhältnismässig?
Absolut, wir haben die grösste Krise seit Ende des zweiten Weltkrieges, die Lage ist ernst.
Im Ständerat war die Rede von einem 17-jährigen Spitzensportler, der sich mit der Impfung unwohl fühlt. Er müsste künftig etwa 150 Franken pro Woche bezahlen, um seinem Alltag nachzugehen. Verhältnismässig?
Das Unwohlsein von Einzelnen kann nicht massgeblich sein für eine Pandemiebekämpfung, die die ganze Gesellschaft betrifft. Man kann nicht auf jeden Einzelnen Rücksicht nehmen.
Das klingt utilitaristisch.
Wir müssen Klartext reden. Jede und jeder ist frei, sich impfen zu lassen. Wer sich aber nicht impfen lässt, muss Konsequenzen auf sich nehmen, die sich aus der Besonderheit einer Pandemie ergeben.
Die Konsequenzen gelten aber wiederum nur für Leute, die es sich nicht leisten können, 50 Franken pro Test zu bezahlen.
Sollen wir denn einen Sozialtarif beim Testen einführen? Sollen die Leute mit dem Steuerausweis im Testzentrum aufkreuzen? Es geht ja auch um Praktikabilität.
Was ist mit dem Argument der körperlichen Integrität jeder einzelnen Person?
Also Entschuldigung, so ein kleiner Mikro-Stich verstösst nicht gegen die körperliche Integrität.

Der Piks verstösst nicht gegen die körperliche Integrität einer einzelnen Person, findet Staatsrechtler Urs Saxer.
Das könnte jemand aber anders erleben.
Dann braucht es handfeste Belege, dass eine Person eine besondere Empfindlichkeit aufweist. Bei den allermeisten Leuten ist so ein Pieks völlig unproblematisch. Es geht jetzt darum, gesetzliche Massnahmen zu ergreifen und durchzusetzen, um diese Pandemie zu bekämpfen, das scheint bei einigen noch nicht angekommen zu sein.
Mehr als bei einigen, fast die Hälfte der Bevölkerung ist noch nicht geimpft.
Da sitzen wir in der sicheren Schweiz, eingebettet in einen Sozialstaat, und haben das Gefühl, dass uns die Pandemie nicht wirklich betrifft. Eine infantile Einstellung, die Verdrängungsleistung von bestimmten Leuten ist gewaltig. Es geht vergessen, dass die Pandemie bis jetzt Milliarden gekostet hat, dass wochenlang das Leben stillstand, dass man nicht an den Arbeitsplatz gehen konnte, dass viele Menschen gestorben sind.. All diese Verluste einfach auszublenden, das braucht schon was.
Vielleicht blenden die Leute das nicht aus, aber haben einfach Angst vor der Impfung?
Die Gemeinschaft kann langfristig trotzdem nicht alle Kosten tragen. Der Staat hat die Aufgabe, Rechtsgüter zu schützen, und eines der wichtigsten Rechtsgüter ist das Leben. Dass wir dafür alle etwas unsere Freiheiten einschränken müssen, liegt auf der Hand. Wir befinden uns nun einmal in einer Krise.
Und trotzdem steigt die Impfquote hierzulande kaum an.
Die Leute sollten sich ihrer sozialen Verantwortung mehr bewusst sein, sonst werden wohl schärfere Massnahmen nicht zu verhindern sein und es könnten auch Impfzwänge relevant werden.
Urs Saxer ist Anwalt und Titularprofessor für Völker-, Staats-, Verwaltungs- und Medienrecht an der Universität Zürich.