«SVP bi de Lüt» in Zofingen: Kein Glarner, weniger Besucher und mehr Kritik – wie Ex-Präsident Burgherr die Diskussion über die Wahlschlappe erlebt hat

«Besuchen Sie SVP-Veranstaltungen und nutzen Sie die Gelegenheit, um SVP-Vertretern persönlich zu begegnen und Ihre Fragen zu stellen.» So wirbt die Volkspartei auf ihrer Website für Anlässe, bei denen ihre Bundesparlamentarier auftreten. Das erste «SVP bi de Lüt» nach den Gemeindewahlen im Aargau, bei denen die Partei insgesamt 23 Sitze verloren hatte, fand am 2. Oktober in Birmenstorf mit den Nationalräten Benjamin Giezendanner und Alois Huber statt.

 
«Leider Zertifikatspflicht»: Das Inserat der SVP für die Anlässe in Birmenstorf und Zofingen.

«Leider Zertifikatspflicht»: Das Inserat der SVP für die Anlässe in Birmenstorf und Zofingen.

AZ

Ein zweiter Polit-Apéro wurde am 4. Oktober in Zofingen durchgeführt, Gäste waren Ständerat Hansjörg Knecht, Nationalrätin Martina Bircher und Nationalrat Thomas Burgherr. Mit einem Inserat in mehreren Zeitungen hatte die SVP Aargau für die Veranstaltungen geworben und darin schon darauf hingewiesen, dass «leider Zertifikatspflicht» gelte.

Glarner kritisiert Zertifikatspflicht aus der Ferne – beim Sessionsrückblick der SVP war er nicht dabei

SVP-Aargau-Präsident Andreas Glarner war beim Anlass im Hotel Zofingen nicht dabei, obwohl er im Juni 2020 in einem AZ-Interview gesagt hatte: «Für mich ist der direkte Kontakt in der Politik sehr wichtig. Man muss «SVP bi de Lüt» auf dem Marktplatz machen können, man muss ein Podium im Ochsensaal oder einen Parteitag mit Präsenz durchführen können.» Statt an der Veranstaltung in Zofingen aufzutreten, war Glarner mit seinem Vater auf einer Flusskreuzfahrt in Frankreich – und kritisierte auf Twitter die Zertifikatspflicht bei der Brücke von Avignon.

Glarners politischer Stil sowie der Widerstand der SVP gegen Covid-Gesetz und Zertifikat waren aber auch im halb leeren Saal des Hotel Zofingen dominierende Themen, wie die Wochenzeitung (WOZ) berichtet. 21 Besucherinnen und Besucher zählte der Reporter der Zeitung und berichtet, dass die SVPler zerstritten wirkten. Ein Besucher habe gar von einer Selbstzerfleischung innerhalb der Partei gesprochen.

SVP-Sympathisanten üben Kritik an Glarners Angriffen auf Gallati

Kritik gab es gemäss der WOZ auch am abwesenden Präsidenten: Glarner habe «eigene Leute ‹vernütigt›». Dass der Präsident den eigenen Regierungsrat Gallati öffentlich angreife, gehe «auf keine Kuhhaut». Zudem verschrecke die SVP ihre Stammwählerinnen und Stammwähler. Die linke Wochenzeitung kommt zum Schluss, die SVP-Sympathisanten am Anlass in Zofingen hätten «genug von Glarners Aggressionen – allerdings nicht von ihm und seinen Positionen».

Am lautesten ist gemäss WOZ-Artikel ein Redner, der sich über SVPlerinnen und SVPler ereifert, die dem Abend mangels Covid-Zertifikat ferngeblieben sind. «Sie sollen Verantwortung tragen und sich impfen!» Andere ärgern sich laut dem Bericht, dass die SVP mit ihrem Einsatz für Gratistests «Schmarotzern» die «Diskothek» finanzieren will. Glarner ist geimpft, wie er in der Oktober-Ausgabe des «SVP Aktuell» schreibt. Es sei aber legitim, sich nicht impfen zu lassen, hält er weiter fest und fordert, «die unsinnige Zertifikatspflicht umgehend abzuschaffen».

Ex-Präsident Thomas Burgherr findet Diskussion über Wahlschlappe normal

Diese bringe nichts und spalte die Gesellschaft, schreibt Glarner, der am Parteitag der SVP Aargau am 27. Oktober für ein Nein zum Covid-Gesetz eintreten wird. «Es brodelt im Volk – und wir erleben gerade ein Aufschaukeln der Situation, welches echt gestoppt werden muss – sonst kommt es nicht gut!», hält der Kantonalpräsident im Parteimagazin fest. Dass es mit der SVP gut kommt, also dass sie wieder Wahlen gewinnt, ist auch ein Ziel von Thomas Burgherr.

Nationalrat Thomas Burgherr war der Vorgänger von Andreas Glarner als Präsident der SVP Aargau.

Nationalrat Thomas Burgherr war der Vorgänger von Andreas Glarner als Präsident der SVP Aargau.

Alex Spichale

Der ehemalige Kantonalpräsident – Burgherr war Glarners Vorgänger in diesem Amt – sagt auf Anfrage: «Wir sind intern intensiv daran, das Wahlergebnis zu analysieren.» Dass es beim Anlass in Zofingen eine öffentliche Diskussion über die Resultate der Gemeindewahlen und die Gründe für das schlechte Abschneiden der SVP gab, ist für Burgherr normal. «Bei dieser Veranstaltung waren Ortsparteipräsidenten und Leute von der Basis dabei, die sich bei den Wahlen engagiert hatten. In einigen ihrer Gemeinden wurden die SVP-Kandidaten gewählt, in anderen nicht – da ist es verständlich, dass dies bei einem Parteianlass Thema ist», sagt er.

Burgherr: «Schon etwas enttäuschend, dass nur 20 Personen kamen»

Burgherr sagt, die SVP Aargau führe regelmässig nach dem Ende der Session der Räte in Bern einen Anlass durch, «bei dem Bundesparlamentarier dabei sind und über ihre Geschäfte berichten». Bei diesem Anlass, der normalerweise im Gasthof zum Schützen in Aarau stattfinde, seien meist zwischen 40 und 50 Personen dabei. Diesmal war das Lokal in Aarau am geplanten Termin nicht verfügbar, deshalb mussten die SVP nach Zofingen ausweichen.

«Dass dort nur etwa 20 Personen kamen, war auch für mich etwas enttäuschend», aber es lasse sich erklären, sagt Burgherr. «Einerseits war der Ort ungewohnt für unsere Mitglieder, deshalb sind wohl weniger gekommen». Zudem musste die SVP einige Besucher in Zofingen wieder nach Hause schicken, «die kein Zertifikat hatten und fälschlicherweise der Meinung waren, für politische Anlässe sei dies nicht nötig».

Kontroverse um Glarners Kurs: «Fehler nicht nur beim Präsidenten suchen»

Burgherr betont, Andreas Glarner sei sonst bei diesen Sessionsrückblicken immer dabei. «Diesmal hatte er aber die Reise mit seinem Vater schon weit im Voraus gebucht, deshalb konnte er nicht teilnehmen.» Der ehemalige Kantonalpräsident bestätigt, dass es bei der Veranstaltung in Zofingen tatsächlich Kritik an Glarners Stil gegeben habe, auch einige scharfe und lautstarke Voten seien zu hören gewesen.

«Aber es gab andererseits auch Leute, die Glarners Kurs lobten und klar machten, dass man die Fehler nicht nur beim Präsidenten suchen darf», hält Burgherr fest. Weil der Kantonalpräsident selber nicht vor Ort war und weil es auch positive Voten gab, «sind wir als Parlamentarier nicht auf die Kritik eingegangen», erklärt er. Auch aus den Reihen der Teilnehmer kam in Zofingen der Aufruf, man solle interne Streitereien nicht vor den Medien austragen. «Dies ist auch meine Meinung», sagt Burgherr.

SVP-Grossrat Urs Winzenried: «Von einem Impfzwang kann keine Rede sein»

In einem Leserbrief in der AZ hat sich auch Urs Winzenried, SVP-Grossrat und zuvor langjähriger Chef der Kriminalpolizei, zur Debatte über das Covid-Gesetz und zur Stilfrage in der Politik geäussert. «Kontroverse Diskussionen sind in einer Demokratie nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht, dies aber immer mit sachlichen Argumenten und vor allem mit gegenseitigem Anstand und Respekt», schreibt Winzenried.

Urs Winzenried, SVP-Grossrat und ehemaliger Aargauer Kripochef.

Urs Winzenried, SVP-Grossrat und ehemaliger Aargauer Kripochef.

Michael Wuertenberg

Mit Blick auf den SVP-Parteitag, wo Präsident Glarner für ein Nein und Regierungsrat Jean-Pierre Gallati für ein Ja zum Covid-Gesetz werben werden, hält Winzenried fest: «Dass auch innerhalb einer Partei unterschiedliche Ansichten bestehen können und Argumente ausgetauscht werden, spricht für das Demokratieverständnis dieser Partei.»

Der pensionierte Kripochef schreibt, er werde dem Covid-19-Gesetz mit Überzeugung zustimmen. Winzenried: «Ich bin überzeugt, dass der sicherste und schnellste Weg aus der Pandemie und damit auch eine baldige Aufhebung der Zertifikatspflicht in einer möglichst umfassenden Impfung der Bevölkerung liegt.» Dass die Behörden versuchten, die Leute zur Impfung zu motivieren, sei legitim, findet der Grossrat.

Winzenried sieht die Situation völlig anders als Glarner und hält fest: «Von einem Impfzwang in der Schweiz kann sicher keine Rede sein!» Der 71-Jährige stellt klar, dass er den Entscheid aller Menschen respektiere, die der Impfung ablehnend gegenüberstehen. «Ich erwarte aber im Gegenzug von ihnen, dass sie die kleinen Einschränkungen ihrer Freiheit, die sie aktuell im Interesse der Volksgesundheit dadurch auf sich nehmen müssen, klaglos akzeptieren», schliesst Winzenried.