
Sylvia Hochuli: «Das Schlimmste ist die Isolation»

Die zweite Welle des Coronavirus trifft die zweitgrösste australische Stadt Melbourne dieser Tage mit voller Wucht. Am vergangenen Mittwoch verzeichneten die Behörden mit 725 Neuinfizierten und 15 Todesfällen den bisher schlimmsten Tag seit Ausbruch der Pandemie. Über 170 Personen sind im Bundesstaat Victoria, dessen Hauptstadt Melbourne ist, bis dato an Covid-19 gestorben.
Am 2. August rief die Regionalregierung für die Fünf-Millionen-Metropole den Katastrophenzustand aus. Es gilt Maskenpflicht, die Einwohner dürfen nur noch für die nötigsten Besorgungen und für kurze Spaziergänge aus dem Haus, und dies nur in einem Umkreis von fünf Kilometern. Auch eine nächtliche Ausgangssperre gilt ab sofort. Die Situation ist bedeutend bedrohlicher als noch während des ersten Lockdowns, der im März und April das Leben in Melbourne bestimmte.
«Wir sind wie abgekapselt von der Welt»
Mittendrin sind auch rund 5100 Auslandschweizer, die im Grossraum Melbourne wohnen. Eine davon ist die Reitnauerin Sylvia Hochuli. Die 77-Jährige lebt seit 1964 in der Stadt (siehe Kasten) und sagt gegenüber dieser Zeitung: «Die Lage ist wirklich schlimm. Die Stadt ist wie ausgestorben und wir sind wie abgekapselt von der Welt.» Dieser zweite Lockdown, der noch mindestens bis 13. September dauern soll, sei um einiges härter als der erste, auch mental: «Das Schlimme ist die Isolation. Man kann die eigene Familie nicht mehr sehen, sondern nur noch am Telefon mit den Angehörigen sprechen.»
Sylvia Hochuli vertreibt sich die Zeit mit kurzen Spaziergängen in ihrer Nachbarschaft, mit Malen, Jassen, Kochen und Backen – «das grösste Hobby ist aber mein Garten». Zudem telefoniert sie oft mit ihrem Sohn und ihren Grosskindern in Sydney, auch steht sie in regem Kontakt mit anderen Auslandschweizern in der Region. Ihr sei es wichtig, den Vorschriften Folge zu leisten: «Ich halte mich selbstverständlich an die Regeln.» Andere Einwohner Melbournes tun dies hingegen nicht, weshalb die Behörden durchgreifen. Bussen in der Höhe von mehreren tausend Franken gibt es für Leute, die sich nicht an die Ausgangssperre halten oder sich zu weit weg von ihrem Haus begeben.
Immer genug Vorräte im Haus
Wichtig ist laut der Aargauerin nun, «dass wir nicht aufgeben. Ich habe zwar nie erwartet, dass die Lage so schlimm wird. Aber wenn wir jetzt ein paar Mal tief durchatmen und alle zusammen mitmachen, schaffen wir das.» Sylvia Hochuli wohnt etwas ausserhalb des Zentrums von Melbourne, in der Nähe des Meers. «Ich habe es gut hier, ich stehe auch in Kontakt mit meinen Nachbarn. Man schaut zueinander.» Auch an Vorräten fehle es ihr nicht. Anders als mancher Australier habe sie keine Hamsterkäufe getätigt: «Ich bin in Reitnau auf dem Land aufgewachsen. Wir hatten immer Vorräte zu Hause. Das habe ich beibehalten.»
Die Seniorin ist eine gesellige Frau. «Ich telefoniere momentan pro Woche etwa 40 bis 50 Mal», erklärt sie. Dies vor allem mit ihrer Familie in Sydney und Auslandschweizern in Melbourne. «Sonst machen wir oft Ausfahrten und treffen uns. Das geht jetzt halt nicht, und das vermisse ich schon.» Einige ältere Schweizer in Melbourne würden die Lage mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichen, der Lockdown fühle sich ähnlich an. Aber deswegen lässt sich Sylvia Hochuli nicht unterkriegen. «Ich bin eine starke Person, ich verfalle wegen des Lockdowns nicht in eine Depression.»
«Ich gehe immer ans Klassentreffen»
Sylvia Hochuli, geborene Schenk, wuchs als ältestes von sechs Geschwistern in Reitnau auf. Als 22-jährige Frau folgte sie 1964 ihrem Nachbarn und späteren Ehemann Fritz nach Australien («meine Eltern hatten überhaupt keine Freude daran»). Per Schiff dauerte die Reise von Neapel nach Melbourne vier Wochen. «Da hatte ich Zeit, um mein Englisch aufzubessern.» In Australien machte sie die Ausbildung zur Buchhalterin.
Dort war das Ehepaar in der Fleischindustrie tätig, in den 70er-Jahren eröffneten die beiden eine Metzgerei. «Wir waren die erste ‹Swiss Butchery› in Melbourne, heute gibt es mehrere.»
Die Aargauerin verlor den Bezug zur Schweiz nie – im Gegenteil. Ihr Einsatz für Auslandschweizer in der Gegend beispielsweise sucht seinesgleichen. «Die Schweiz war mir schon immer äusserst wichtig.» Sie ist seit Jahrzehnten in der Schweizer Trachtengruppe von Melbourne sowie in der Schweizer Tanzgruppe «Alpenrose» aktiv. 2016 erhielt sie für ihren Einsatz für Auslandschweizer in Australien gar die Ehrenmedaille von Australien, die «Medal of the Order of Australia».
Die 77-Jährige ist seit mehreren Jahren Witwe. Zu normalen Zeiten reist sie alle zwei bis drei Jahre in die Schweiz, wobei sie auch immer ihre Heimat Reitnau besucht: «Ich gehe immer ans Klassentreffen», sagt sie und lacht. Auch reise sie dann jeweils in der ganzen Schweiz umher. Ins Gepäck zurück nach Melbourne habe sie früher immer Aromat und Schokolade gepackt. «Das ist nun nicht mehr nötig, wir erhalten das mittlerweile auch in Melbourne.»