Terminabsagen aus Angst vor Corona: «Nein, das ist keine gute Idee»

Das Spital Zofingen steht vor immer neuen organisatorischen Herausforderungen. Im Winter hat es für einige Wochen eine Covid-Station betrieben, nun laufen die Vorbereitungen für das Impfzentrum, das am 15. Februar seinen Betrieb aufnehmen soll. Zudem ist die Leitung mit einem neuen Phänomen konfrontiert. Deutlich mehr Patienten als früher sagen ihre Behandlungen kurzfristig ab – unter anderem aus Angst, sich im Spital anzustecken. Das sei unbegründet, sagt Tobias Ehmann, Chefarzt und Leiter des Bereiches Innere Medizin und Diagnostik.

Herr Ehmann, das Spital hat einige bewegte Monate hinter sich. Wie stellt sich die Situation zurzeit dar?

Wir haben tatsächlich einige interessante Entwicklungen beobachtet. Im Frühjahr 2020 blieben die Patientinnen und Patienten praktisch ganz weg. Zwar haben wir keine Sprechstunden mehr durchgeführt, haben uns aber gewundert, dass sie auch kaum mehr in die Notfallaufnahme gekommen sind. Wir haben uns gefragt: Wo sind die Herzinfarkte, wo die Schlaganfälle? Eine Chefärztin aus dem Kanton Zürich erzählte mir, dass es bei ihr genauso war. In der zweiten Welle haben wir einerseits Covid-Patienten betreut und parallel dazu die Sprechstunden und Untersuchungen – beispielsweise in der Endoskopie – weiterbetrieben. Was wir in den letzten, zwei drei Wochen feststellen, ist die Tatsache, dass aus vereinzelten Absagen viele Absagen geworden sind. Wir haben analysiert, welche Gründe es dafür gibt.

Ich nehme an, die Leute sagen aus Angst ab, sich anzustecken.

Das ist sicher ein wichtiger Grund, aber nicht der einzige. Sich im Spital anzustecken ist zurzeit weniger möglich als irgendwo in der Öffentlichkeit – also wenn man beispielsweise im öV unterwegs ist oder einkaufen geht. Wir achten sehr darauf, dass die Hygiene- und Abstandsregeln eingehalten werden. Wir sind seit dem 8. Januar Covid-frei, wir haben ja auch keine Covid-Patienten mehr in Zofingen. Wir fahren also im Moment wieder so wie im Frühjahr. In Aarau wurde der Operationsbetrieb deutlich reduziert; deshalb arbeiten wir einen Teil der dringlichen Eingriffe hier in Zofingen ab.

Sie sagen, es gibt für die vielen Absagen noch andere Gründe. Welche?

Wir haben bei Patienten nachgefragt. Manche sind in Quarantäne oder Selbstisolation und kommen deshalb nicht. Andere haben Mühe, ihrer Arbeitsstelle fernzubleiben, weil es Kolleginnen und Kollegen gibt, die in Isolation oder Quarantäne sind. Der Betrieb kann also schlicht nicht auf sie verzichten. Tatsächlich sind ja viele Abklärungen und Untersuchungen nicht sehr dringend, man kann damit in der Regel ein paar Wochen warten.

Von wie vielen Absagen sprechen wir? Dutzende?

Wir machen pro Tag zwischen zehn und zwölf Endoskopien, die Sprechstunden sind etwa in der gleichen Grössenordnung. Und pro Tag erreichen uns zwei bis vier Absagen, auch kurzfristige. Vor Corona gab es alle zwei, drei Wochen eine Absage.

Haben Sie schon Fälle beobachtet, bei denen Patienten Termine abgesagt haben und es deswegen zu Komplikationen kam?

Im ambulanten Bereich ist es zu früh, etwas darüber zu sagen. Im stationären Bereich hatten wir tatsächlich Patienten, denen es gut getan hätte, sie wären früher gekommen. Der Krankheitsverlauf war also schon etwas fortgeschritten, entsprechend eingeschränkter waren die Behandlungsmöglichkeiten und Heilungschancen. Es waren schon Schäden da, die man nicht mehr so einfach beheben konnte.

Also keine gute Idee, Behandlungen hinauszuschieben?

Nein, überhaupt nicht. Nochmals: Wir testen alle Patienten, die auf der Abteilung aufgenommen werden. Wir testen auch das Personal regelmässig. Wir sind sehr, sehr stringent, was die Kontrolle über das Infektionsgeschehen anbelangt. Auch werden Patienten isoliert, bei denen wir das Gefühl haben, sie könnten Covid-positiv sein, obwohl der Test negativ ausgefallen ist – mit allem, was dazu gehört: Schutzmänteln, Masken, Schutzbrillen und so weiter. Solche Patienten werden dann auch zwei- oder dreimal getestet. Wir hatten tatsächlich auch schon Patienten, die dann im Verlauf dieser Massnahmen positiv getestet wurden. Wir können wirklich mit gutem Gewissen sagen, dass das Infektionsgeschehen am Spital Zofingen zu keinem Zeitpunkt ausser Kontrolle geraten ist.

Schauen wir in die Zukunft: Wie zuversichtlich sind Sie, dass wir im Sommer wieder Konzerte besuchen können?

Vieles hängt jetzt an der Impfung und wie schnell wir impfen können. Mit der Impfung verfolgen wir ja primär nicht das Ziel der Herdenimmunität. Das Konzept ist, dass wir die Risikopatienten impfen und damit schützen. Wie sich das Impfkonzept in den nächsten Monaten entwickelt, wissen wir noch nicht. Die Impfung wird dafür sorgen, dass die Todesfälle zurückgehen werden, in den Spitälern wird die Betreuungssituation auf den Intensivstationen besser. Ich bin mir aber ganz sicher, dass wir noch viele Monate mit dem Virus zu tun haben werden – auch bis ins nächste Jahr. Wir müssen mit weiteren Virusmutationen rechnen, die nicht nur eine oder zwei Impfungen benötigen, sondern jährliche Impfungen – ähnlich, wie es bei der Grippeimpfung mit einem jeweils adaptierten Impfstoff üblich ist. In den nächsten Monaten werden wir besser wissen, was der Impfstoff mit den Mutanten macht. Und wir hoffen inständig, dass die Virusmutation nicht zu einer starken dritten Welle führt.

Das heisst, mit Konzerten dürfte es auch diesen Sommer schwierig werden?

Das hängt dann wohl auch davon ab, ob man Zugangsbeschränkungen macht, also nur Geimpfte oder jene zulässt, die die Erkrankung durchgemacht haben. Das ist ein politischer Entscheid und hat mit der Medizin nicht mehr viel zu tun. Dass wir eine Herdenimmunität haben – also 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung, die geimpft sind oder die Krankheit durchgemacht haben – das halte ich für eher unwahrscheinlich. Es kann sein, dass uns das Klima wiederum helfen wird. Wir werden aber sicher im Herbst und Winter nochmals eine Phase haben, in der die Infektionen wieder zunehmen. Covid-19 wird uns noch ein, zwei Jahre beschäftigen.

Sie sind mitten in den Vorbereitungen für das Impfzentrum. Wie läufts?

Der Impfstart ist für den 15. Februar geplant. Wir hoffen, dass wir dann ausreichend Impfdosen zur Verfügung haben. Das können wir ja selbst nicht beeinflussen, das wird vom Kanton koordiniert. Im Moment sieht es nicht schlecht aus. Ein dritter Impfstoff ist in der Pipeline, jener von AstraZeneca. Und je mehr Zeit ins Land geht, desto mehr Entlastung wird es geben, da ja noch zwei weitere Impfstoffe in der klinischen Prüfung sind.

Es gibt die Kritik, die Schweiz habe zu wenig schnell und mit zu wenig Druck Impfdosen beschafft. Wie sehen Sie das?

Bis jetzt haben das alle Parteien relativ gut gemacht. Im letzten Sommer wusste man noch nicht einmal, ob es in absehbarer Zeit einen Impfstoff geben wird. Man wusste auch nicht, welcher Hersteller erfolgreich sein würde. Ich finde es richtig, dass man bei der Sicherheit keine Abstriche macht. Man muss sich vorstellen, was passiert wäre, wenn es zu relevanten Zwischenfällen gekommen wäre und welchen Einfluss dies auf die Impfmoral gehabt hätte. Unter den Umständen, die wir haben, sind die Impfungen gut angelaufen. Dass man sich mehr gewünscht hätte, ist nachvollziehbar. Wir haben ein tolles, föderales System. Wenn man in Krisenzeiten quasi durchregieren muss, um etwas umzusetzen, dann ist man mit einem zentralistischen System besser dran. Die britische Gesundheitsbehörde beispielsweise hat mehr Möglichkeiten, etwas auf dem schnellen Weg umzusetzen. Hier haben wir föderale Strukturen, deshalb sind die Abläufe komplexer. Das ist grundsätzlich kein Drama.

ZUR PERSON

Dr. Tobias Ehmann (1961) studierte Medizin an der Freien Universität Berlin. 1991 kam er als Assistenzarzt ans Regionalspital Laufenburg, es folgten Anstellungen in Aarau, Wolhusen, St. Gallen und Lausanne. 2005 bis 2011 war Ehmann Co-Chefarzt Innere Medizin am Kantonsspital in Wolhusen, seit zehn Jahren leitet er den Bereich Innere Medizin und Diagnostik am Spital Zofingen.