
Tierschützer schlagen Alarm: Tausende Katzen verenden in der Schweiz qualvoll – Politiker wollen Staat verklagen
Wenn man Esther Geisser sagt, es sei doch alles in Ordnung mit der Lage der Katzen in der Schweiz, bebt ihre Stimme. «Jedes Jahr sterben in der Schweiz 100’000 Kätzchen jämmerlich dahin, weil die Leute zu gleichgültig oder geizig sind, um zu kastrieren. Nein, wir werden dieses Thema nicht ruhen lassen. Und nein, wir lassen auch Bundesbern nicht in Ruhe.» Esther Geisser ist Präsidentin des Network for Animal Protection (Netap). Seit dreissig Jahren setzt sie sich aktivistisch für das Recht von Tieren ein.
Laut Schätzungen der Tierverbände – offizielle Zahlen gibt es keine – leben in der Schweiz zwischen 100’000 und 300’000 Katzen, die offiziell niemandem gehören. Katzen vermehren sich rasant, werfen mehrmals im Jahr Junge. Tierschutzverbände kastrieren mit Spendengeldern von mehreren hunderttausend Franken Tausende Katzen im Jahr – aber schaffen es dennoch nicht, die Überpopulation zu reduzieren. Ein Teil der unerwünschten Katzen, gemäss Hochrechnungen von Netap sind es 100’000, werden zudem jedes Jahr erschlagen, ertränkt, erschossen oder eingeschläfert. Weil Bauern oder andere Grundstückbesitzer der Lage nicht mehr Herr sind oder den Aufwand scheuen, sich aktiv um die Katzen zu kümmern.
Natürlich seien die Zustände noch nicht so krass wie in Griechenland, der Türkei oder Osteuropa, wo Touristen scharenweise kranke, verwaiste und hungernde Tiere sehen. Doch auch in der Schweiz müsse man von einem «akuten Katzenproblem» sprechen, sagen Verbände. Neben der Tatsache, dass diese Katzen physisch leiden und teilweise qualvoll verenden, schaden die vielen Katzen auch der Flora und Fauna in der Schweiz. Sie paaren sich mit der geschützten Wildkatze und verändern deren Genpool, jagen Vögel und andere Kleintiere, die sie nicht sollten.
Die Stiftung Für das Tier im Recht hat im Juni 2018 deshalb zusammen mit Netap eine Petition in Bern eingereicht. 115’000 Unterschriften waren zusammengekommen. Über 150 Tierschutzorganisationen trugen diese mit. Ihre Forderung: Kastrationspflicht bei Katzen, ohne Wenn und Aber. Jeder Halter soll dazu verpflichtet werden, sein Büsi auf eigene Kosten zu kastrieren, sofern es Auslauf hat. Der Bundesrat lehnte ab, mit der Begründung, die Pflicht gehe zu weit. Der Bauernverband begehrte auf. Der höchste Luzerner Bauer sagte, die Bauernbetriebe sollen den Hofkatzenbestand selber regulieren dürfen. Man appelliere auf «Eigenverantwortung und Selbstbestimmung». Gegner befürchteten Kosten für den Staat. National- und Ständerat lehnten die Petition ab.
Chip-Pflicht für Katzen abgeschmettert
Verschiedene Politiker, die in eine ähnliche Kerbe schlugen und das Problem der Streuner in den Griff bekommen wollten, erlitten Niederlagen. GLP-Nationalrätin Isabelle Chevalley forderte im Dezember eine Chip-Pflicht für Katzen – analog zu Hunden, für die eine Chip-Pflicht seit 2006 gilt. Somit hätten unter anderem auch gezielter Kastrationskampagnen bei verwilderten Katzen durchgeführt werden können, argumentierte sie. Doch auch hier winkten Bundesrat und dann der Nationalrat ab. Für Chevalley wäre die Chip-Pflicht ein guter Kompromiss gewesen – denn auch für sie geht eine Kastrationspflicht für alle Halter zu weit. «Ich will nicht den Staat dazu zwingen, sich in meine privaten Katzen-Angelegenheiten einzumischen», sagt sie. In Bundesbern sei die Lage so gut wie aussichtslos. «Die Mehrheit der Politik will sich aus der Verantwortung stehlen.»
Im Moment ist einzig noch eine Motion der FDP-Nationalrätin Doris Fiala hängig. Wann sie im Rat behandelt wird, ist noch unklar. Fiala selbst räumt ihrem Anliegen kaum Chancen ein, «weil die Ablehnung des Antrags einer ganzen Kommission ja schon ein deutliches Zeichen ist». In ihren Augen scheiterte das Anliegen an der Bauernlobby im Bundeshaus, die in jeder Partei vorhanden sei. Und daran, dass wohl Tierschützer-Anliegen und das Katzenproblem als nicht dringlich genug empfunden würden. «Dabei ist das Thema der Bevölkerung sehr wichtig», sagt Fiala. Selten habe sie in ihrer politischen Arbeit derartig viele Reaktionen aus der Bevölkerung erhalten, über soziale Plattformen, über Briefe und Telefonanrufe. Tierschutzfragen würden viele Menschen sehr beschäftigen.
Dabei ist der Mensch der Hauptschuldige an der heutigen Situation. Auch wenn zahlreiche Katzenhalter verantwortungsvoll handeln. Ausserdem zeigen die Zahlen der Meldefälle bei Schweizer Tierheimen: Noch nie war der Anteil an Findelkatzen in Heimen so gross wie heute. Bei rund zwei Drittel der über 10’000 Katzen, die schweizweit jährlich alleine in Heimen des Schweizer Tierschutzes landen, ist der Halter nicht bekannt. Auffällig viele dieser Katzen, sagt Geisser von Netap, seien zutraulich – es sei davon auszugehen, dass einige willentlich ausgesetzt wurden. Geisser macht den Social-Media-Katzentrend dafür mitverantwortlich: «Wir schauen uns süsse Katzenbabys auf Facebook an und wollen dann auch unbedingt solche Tiere. Merken aber schnell: So einfach, wie ich mir das vorgestellt habe, ist es gar nicht». Viele würden die Anschaffung bereuen. Und die Katzen zum Beispiel zu Ferienzeiten vermehrt aussetzen oder abgeben. Der Mensch, sagen Tierphilosophen und Tieranwälte, lebe eine Doppelmoral. Auf der einen Seite würden Haustiere immer stärker ins Zentrum gerückt und als Kinderersatz verhätschelt. Auf der anderen Seite stelle sich der Mensch noch immer moralisch über das Tier.
Gesetzeslage sehr widersprüchlich
Das zeigt sich auch im Schweizer Rechtssystem, sagt die Stiftung Für das Tier im Recht. «Auf Gesetzes- und Verordnungsebene ist die Situation in der Schweiz sehr widersprüchlich», sagt Rechtsanwältin Christine Künzli. Es sei in der Bundesverfassung verankert, dass die Würde des Tiers geschützt werden müsse. Bei näherer Betrachtung liessen die Verordnungen aber Kompromisse zu Lasten der Tiere zu, wie beispielsweise, dass bei Tieren gewisse schmerzhafte Eingriffe ohne Betäubung erfolgen können. Der Staat komme dort seiner Verantwortung nicht nach, sagt Künzli. «Ebenso hat der Bund die Pflicht, Bestimmungen zu erlassen, um die Streunerpopulation in den Griff zu kriegen.» Dass der Staat davon nicht Gebrauch mache, stehe im Widerspruch zu seinen verfassungsrechtlichen Pflichten.
Deshalb, und auch aufgrund der geringen Chancen, die Politiker in Bern der Motion von Doris Fiala noch einräumen, denken Tierschützer darüber nach, den juristischen Weg zu beschreiten. Über eine Volksinitiative und Bestimmungen auf kantonaler oder kommunaler Ebene. Vorbild für die Schweizer Tierschützer ist unter anderem Deutschland, wo über 700 Gemeinden eine Kastrationspflicht eingeführt haben – mit Erfolg, wie erste Orte vermelden. In Österreich gilt eine entsprechende Kastrationspflicht seit 2005.
Nationalrätin Chevalley geht noch einen Schritt weiter: Sie denkt laut darüber nach, den Staat zu verklagen. «Eine Möglichkeit wäre, Abklärungen zu treffen, um den Bund vor Gericht zu ziehen (siehe Box). In den Niederlanden haben Klimaaktivisten erfolgreich den Staat verklagt, weil dieser in der Klimaschutzfrage zu lange untätig war – warum sollte das nicht auch im Bereich Tierschutz gelten?» Sie wolle sich im März mit anderen Parlamentariern absprechen und erste Schritte andenken. «Nur, weil das Parlament grüner ist, ist es nicht auch tierfreundlicher.»
Die Schweiz verklagen: Ist das überhaupt möglich?
Politiker denken derzeit laut darüber nach, den Staat zu verklagen, weil er in ihren Augen zu wenig gegen das Leiden streunender Katzen unternimmt (siehe Artikel).
In der Schweiz sind Klagen gegen den Staat eher die Regel als eine Ausnahme, wie Johannes Reich vom Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich auf Anfrage erklärt. Der Staat könne, auf Kommunal-, Gemeinde-, Kantons- oder Bundesebene dazu gezwungen werden, gesetzliche Grundlagen einzuhalten. Doch im Falle der streunenden Katzen sieht die Lage hierzulande eher schlecht aus. «Das Gesetz besagt zwar, dass das Tierwohl geschützt werden muss, dieser Grundsatz ist aber sehr allgemein gefasst», so Reich. Wie und mit welchen juristischen Folgen das Problem angegangen werden kann, definiert das Gesetz nicht. «Deshalb liegt der nächste Schritt nun tatsächlich bei der Politik, die nun konkrete Handlungspflichten definieren muss.» Nur so könnte eine Unterlassung dieser Pflichten eine Rechtsverletzung darstellen – und entsprechend eingeklagt werden.» Grundsätzlich vor Gericht ziehen könnten die Tierschützer trotzdem. Doch die Chance, dass sie gewinnen würden, ist sehr klein. (ami)