
Ulf Klostermann: «Auf See ist man in Gottes Hand»
Von Lanzarote nach Grenada
Die «Atlantic Anniversary Regatta» (AAR) ist, anders als zum Beispiel der «Americas Cup» ein Rennen für unterschiedliche Rennboote. Es waren nonstop rund 3000 Seemeilen zu segeln. Das Transatlantikrennen mit Ulf Klostermann führte 26 Teams von Lanzarote nach Grenada. Jede Crew musste ihren eigenen Weg finden. Die Hobby-Crew mit dem Zofinger Schiffsarzt erreichte den
6. Platz beim AAR WEST, unter den ersten drei Platzierten waren Profi-Crews. (tdä)

Statt 3500 Meter über Meer im Helikopter rütteln – 3500 Seemeilen über den Atlantik schütteln: Der Zofinger Rettungsarzt Ulf Klostermann hat 2017 für 14 Tage sein Einsatzgebiet verlagert und als noch unerfahrener Schiffsarzt an der Transatlantik-Regatta «AAR West» teilgenommen. Dabei musste der Mediziner und Familienvater aus Zofingen als Expeditionsarzt bei einem Minimum an persönlichen Freiheiten an Bord ein Maximum an unvorhersehbaren Herausforderungen bestehen. Nun äussert sich der seit 1992 in der Schweiz lebende Ulf Klostermann vier Jahre nach dieser Prüfung erstmals öffentlich über Ängste, Entbehrungen und die Gründe, weshalb er eine Atlantiküberquerung trotz schmerzhafter Erfahrungen gerne wieder antreten würde.
Wie kommt ein Bergretter zu einem Einsatz als Schiffsarzt auf hoher See?
Ulf Klostermann: Ich segle bereits seit meinem 14. Lebensjahr. Vor bald zehn Jahren bin ich schliesslich beim Yacht Club Luzern Assistenztrainer für die Junioren geworden. 2017 wurde bekannt, dass für die Transatlantik-Regatta AAR (siehe Kasten) eine Crew aus erfahrenen Sportseglern gesucht wird. Da habe ich nicht lange gezögert!
Das besondere Schiff – eine Rennmaschine?
Definitiv! Die «Volvo Open 70» ist ein Hightech-Rennboot. Das Schiff ging 2008 mit einer Proficrew um die Welt. Es ist über 21 Meter lang und aus Carbon. Und es erreicht bei einer Wasserverdrängung von 14 Tonnen und einer Masthöhe von 32 Metern eine Geschwindigkeit von 60 km/h. Die Crew besteht aus 15 «Mann», es hat aber nur ein einziges WC und keine Dusche. Geschlafen wurde abwechslungsweise und «Füsse voraus», damit bei einer Kollision – zum Beispiel mit verloren gegangenen Frachtcontainern – keine Halswirbelverletzungen drohen.
Was hat Sie an diesem Abenteuer am meisten gereizt?
Meine frühere Tätigkeit als Arzt und Retter bei der Air Zermatt war bisher mein abenteuerlichstes Erlebnis. Der Einsatz als Schiffsarzt schien mir eine ebenbürtige, sportlich und menschlich spannende Aufgabe zu sein.

Wie haben Sie sich auf den Einsatz vorbereitet?
Ich habe mich eingehend mit Seekrankheit auseinandergesetzt. Neben einer wasserdichten Apotheke mussten auch die Notfallausrüstung der Crewmitglieder zusammengestellt und Versicherungsfragen geklärt werden. Obwohl die Rettung Schiffbrüchiger international kostenfrei geleistet wird.
Wie hat sich die Verpflegung auf die Gesundheit der Crew ausgewirkt?
Das Essen war so weit möglich ausgewogen. Kochen konnten wir nicht – ausser Kaffee. Wir haben vorgefertigte, in einem Wärmebeutel chemisch erhitzte Fertigmenues gegessen. Zu Trinken gab es nur stilles Wasser, es herrschte ein Alkoholverbot. Leider hatte ich die Überwachung des Trinkwasserkonsums vernachlässigt. Wir mussten nach zehn Tagen an Bord das Wasser auf 1,5 Liter pro Tag rationieren und sind mit nur drei Liter Trinkwasser an Bord auf Grenada eingelaufen! Das war extrem knapp!
Wie wurde die bunt zusammengewürfelte Schar aus 15 Individualisten im Alter zwischen 25 und 60 Jahren zu einem richtigen Team?
Aufgrund gemeinsamer Vorfreude und Begeisterungsfähigkeit waren wir schnell eine verschworene Gemeinschaft. Es waren die unterschiedlichsten Berufe vertreten, vom Berufstaucher bis zu Finanzfachleuten und einem Malermeister. Es war lediglich eine einzige Frau auf dem Schiff. Sie war unangefochtene Chefin beim Segelsetzen!
Wie schwierig ist der 24-Stunden-Betrieb?
Schwierig! Die Crew arbeitet in zwei Wachen und geschlafen wurde jeweils vier oder sechs Stunden. Für 15 Leute standen nur 12 Schlafkojen zu Verfügung – das sind U-Boot-Verhältnisse! Ruhe gab es an Bord nie: Der nicht isolierte Carbonrumpf hallte und ächzte, der Stromgenerator lärmte und die aktive Wache arbeitete laut. Dennoch ist man irgendwann eingeschlafen.
Wie unterscheidet sich der Job als Expeditionsarzt auf einem Schiff im Vergleich zur Arbeit eines Bergrettungsarztes oder im Spital?
Gar nicht! Man kann, was man kann, und man hat, was man eingepackt hat. Mehr gibt’s nicht. Es ist die Vorbereitung, die Bereitschaft, zu liefern, und die Kunst der Improvisation. Es muss jedem Einzelnen klar sein, dass je nach Trauma oder akuter Erkrankung das Leben auf See schneller zu Ende gehen kann als in der optimal versorgten Zivilisation. Es heisst nicht ohne Grund: «Auf See oder vor Gericht ist man in Gottes Hand.»

Welche Medikamente stehen auf See im Vordergrund?
Es sind die üblichen Verdächtigen: Atropin, Nitrospray, potente Schmerzmittel, Narkosemedikamente und Antibiotika. Eine dermatologische Herausforderung bietet das Segeln in den wasserdichten Segeloveralls ohne Dusche und mit dem vielen Sitzen/Rutschen im warmfeuchten Klima: Der «Spotty-Botty» – eine Akne am Allerwertesten – wurde schnell zum blinden Passagier. «Sudocream» hiess das heiss begehrte Zaubermittel.
Wovor hatten Sie am meisten Respekt?
Ein Albtraum, wenn bei schwerem Seegang oder in der Nacht jemand über Bord geht. Deshalb trägt die Mannschaft Rettungswesten mit elektronischen Geräten und in der Nacht ist man mit einer Leine gesichert. Auch ein Materialbruch wiegt schwer! Ein Mastbruch führt zu chaotisch herumfliegenden Trümmerteilen und kann viele Verletzte fordern. Ein Kielbruch ist gleichbedeutend mit dem Verlust des Schiffes, dann kentert das Boot und geht unter. Und kaum eine Chance gibt es auch, wenn es auf einem Kunststoffschiff brennt!
Gab es Notfälle, die Sie als Arzt mehr als normal herausgefordert haben?
Nie mehr vergessen werde ich die Fehlbenutzung des Scopolamin-Nasensprays gegen die Seekrankheit. Diesen Spray hatte ich gemäss publizierten Studien der NASA anfertigen lassen. Die Überdosis führte beim Training zu einer mehrstündigen Desorientiertheit mit Bewusstlosigkeit – zum Glück aber ohne schwere Komplikationen. Jetzt weiss ich, warum die NASA diesen Nasalspray nie kommerziell vermarktet hat. Die Gefahr einer Fehldosierung ist bei Nasensprays besonders hoch, da diese vom Anwender oft viel zu wenig ernst genommen und nach dem Motto «viel hilft viel» nachdosiert werden. Auf dem Törn haben dann aber 50 Prozent der Crew diesen Scopolamin-Nasenspray richtig genutzt. Eine grössere Kopfplatzwunde war die grösste Verletzung, die ich zu versorgen hatte.
«Mehr davon» – oder «nie wieder»?
Bei der Rückkehr ins «normale Leben» hat anfänglich nur ein Gefühl dominiert: «überlebt und überglücklich – aber nie wieder!». Stress, Risiko, Entbehrungen und Müdigkeit bis zur Erschöpfung haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Jetzt aber hat sich das Blatt gewendet: Segeln in einer anderen Dimension, das intensive Naturerlebnis auf dem Atlantik und das unvorstellbare Teamgefühl haben ihre Anziehungskraft wiedergefunden. Es schmeckt eindeutig nach «mehr Meer» – der Mensch braucht Träume! Die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema «Maritime Medizin» hatte aber auch professionelle Folgen: Ich bin inzwischen als Referent für die Schiffsarztbörse aktiv und wir können schon bald in der Schweiz für interessierte Segler vom World Sailing Verband lizenzierte Kurse anbieten.
Zur Person
Ulf Klostermann, geboren 1963 in Wuppertal (D). Studium der Medizin in Köln und Kiel. Facharztausbildung Anästhesiologie im Kantonsspital Luzern und in der Charité Berlin. Weitere Stationen: Kantonsspital Obwalden und SPZ Nottwil. Deutsch- schweizerischer Doppelbürger, seit 1992 in der Schweiz lebend. Facharzt für Anästhesiologie und Interventionelle Schmerztherapie. 1994–2006 Mitglied im Notarztteam der Air Zermatt. Seit 2004 selbständig im Schmerz Zentrum Zofingen tätig. (tdä)