«Unhaltbare Zustände» in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Der Druck auf die Regierung steigt

Psychiatrische Notfälle von Kindern und Jugendlichen haben im Kanton Aargau zugenommen. Gleichzeitig kommen im Aargau auf 1000 Kinder gerade einmal 0,15 Kinderpsychiaterinnen und Kinderpsychiater – halb so viele wie im Schweizer Durchschnitt. Es herrsche ein «drastischer Versorgungsnotstand», sagte Karin Wiedmer, Kinderpsychiaterin in Wohlen, zur AZ. Diese Unterversorgung bestehe nicht erst seit Corona, sondern sei einfach lange schöngeredet worden. Tatsächlich haben Kinderärzte und Kinderpsychologinnen schon vor drei Jahren Alarm geschlagen.

SP-Co-Fraktionspräsidentin: «Ein Desaster mit Ansage»

Auch Colette Basler, Co-Fraktionspräsidentin der SP, spricht von einem «Desaster mit Ansage». Es sei seit Jahren bekannt, dass immer mehr Menschen eine psychiatrische Behandlung brauchen. Die SP habe immer wieder vor den Folgen gewarnt. «Aber politische Vorstösse um Angebote zu finanzieren oder die Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals zu verbessern, sind von der rechtskonservativen Mehrheit im Grossen Rat immer abgeschmettert worden», sagt Basler.

Wohin das führe, zeige sich jetzt. «Die Zustände bei den Psychiatrischen Diensten Aargau und insbesondere in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind unhaltbar», sagt Basler. «Es erschüttert mich, wenn ich höre, dass eine Kinderpsychiaterin verzweifelte Eltern abweisen muss.»

Für die SP-Grossrätin ist klar, dass es jetzt Massnahmen braucht, um die Situation zu verbessern. «Wir können nicht bis nächstes Jahr warten. Die Zeit läuft uns davon.»
Konkret fordert die SP Aargau, dass der Kanton die Kinder- und Jugendpsychiatrie finanziell unterstützt. Für die Wirtschaft seien schliesslich auch Hilfsgelder in Millionenhöhe gesprochen worden. «Und hier geht es um Menschen; um Kinder und Jugendliche. Sie sind unsere Zukunft» sagt Colette Basler.

Die Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) haben beim Regierungsrat einen Antrag um Mitfinanzierung von Angeboten im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie gestellt. Sie fordern rund 5,5 Millionen Franken. Damit wollen sie unter anderem ambulante Krisenbehandlungsplätze aufbauen und mehr Tagesklinikplätze schaffen.

Locken attraktive Angebote das Personal in den Aargau?

Dass sich das Problem des Fachkräftemangels mit Geld allein nicht lösen lässt, ist Colette Basler klar. Die Pflegeinitiative, über die am 28. November abgestimmt werde, tue deshalb mehr als Not (siehe Artikel unten). Gleichzeitig ist Basler zuversichtlich, dass durch attraktive und ausreichend finanzierte Angebote in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auch die Arbeitsbedingungen attraktiver werden und die Fachkräfte künftig eher im Aargau bleiben oder in den Aargau kommen.

Das glaubt auch Grossrat Andre Rotzetter (Die Mitte). Gerade im ambulanten Bereich gebe es im Aargau viel Potenzial für innovative Angebote. «Solche aufsuchende oder ambulante Angebote entlasten auch die stationären Strukturen», sagt Rotzetter. Für ihn steht ausser Frage, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie jetzt finanziell unterstützt werden muss. «Für die betroffenen Kinder und deren Familien sind lange Wartezeiten eine enorme Belastung und sie gehen meistens auch mit einer Verschlechterung der Situation einher.»

FDP-Grossrat spricht von einem «strukturellen Problem»

Offensichtlichen Handlungsbedarf in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sieht auch Tobias Hottiger, FDP-Grossrat und Mitglied der Gesundheitskommission. Die Unterversorgung habe sich schon länger abgezeichnet. Es handle sich dabei um ein «strukturelles Problem», welches durch die Coronapandemie noch verschärft wurde.

Finanzielle Soforthilfe sieht er als Möglichkeit, um die Situation kurzfristig zu verbessern. Sollte der Regierungsrat in der Kinder- und Jugendpsychiatrie akute Not erkennen, erwartet Hottiger, dass dieser dem Grossen Rat rasch ein Geschäft vorlegt und aufzeigt, wofür genau das Geld gebraucht wird. «Wenn mit kantonaler Soforthilfe die Kapazitäten ausgebaut werden können und die Situation für die Betroffenen verbessert werden kann, dann muss das sicher geprüft werden.»

Längerfristig müsse die Regierung in der Gesundheitspolitischen Gesamtplanung aufzeigen, wie er die Versorgung sicherstellen und das strukturelle Problem lösen wolle, sagt der Freisinnige.

SVP-Gesundheitspolitiker sieht finanzielle Soforthilfe «sehr kritisch»

«Sehr kritisch» steht SVP-Gesundheitspolitiker Clemens Hochreuter finanzieller Soforthilfe gegenüber. Dies vor allem, weil die PDAG im Coronajahr 2020 einen Gewinn von rund neun Millionen Franken erwirtschaftet und eine Ebitda-Marge von über zehn Prozent erzielt hätten.

Für Hochreuter ist klar: «Zuerst muss geklärt werden, weshalb es bei den PDAG einen Personalmangel gibt.» Dazu müssten die konkreten Arbeitsbedingungen bei den Psychiatrischen Diensten überprüft werden.

Saubere Analyse statt unüberlegte Kurzschlüsse

Vom Regierungsrat erwartet der SVP-Grossrat, dass er den Mitfinanzierungsantrag der PDAG eingehend prüft und seine Verantwortung auch in den Eigentümergesprächen wahrnehme. «Es braucht eine saubere Analyse und nicht unüberlegte Kurzschlüsse unter dem Druck der derzeitigen Covid-Pandemie», sagt Clemens Hochreuter.

Den Vorwurf der SP, dass die Sparerei der Bürgerlichen mitverantwortlich für die Situation sei, weist Hochreuter entschieden zurück. Erstens verzichte der Kanton bewusst auf die Ausschüttung einer Dividende, was die PDAG entlaste. Zweitens seien die Abgeltungen für Gemeinwirtschaftliche Leistungen erhöht worden.