
Verzweifelte Senioren: Die Suizidrate ist bei Rentnern überproportional hoch
Bei der richtigen Anlaufstelle Hilfe holen
Die Suizidprävention ist verhältnismässig jung. Pionierhaft in diesem Gebiet war die Telefonseelsorge «Dargebotene Hand». 1954 startete der Londoner Pfarrer Chad Varah den ersten Aufruf: «Bevor Sie sich das Leben nehmen, rufen Sie mich an!», hiess es in seinem Inserat. Die Idee machte Schule, auch in der Schweiz.
Seit 1957 gibt es hierzulande das Sorgentelefon, bei dem die Anrufenden anonym ihre Probleme schildern können. Rund um die Uhr, auch an Feiertagen. Franco Baumgartner, der Geschäftsführer des Verbandes «Dargebotene Hand», sagt, dass heute lediglich ein kleiner Teil der Hilfesuchenden wegen Suizidalität anrufen: etwa 2000 von den rund 160 000 Gesprächen pro Jahr. «Die wenigsten dieser Anrufenden sind akut gefährdet. In den meisten Gesprächen sind Suizidgedanken eines von mehreren Themen.»
Häufig falle es Hilfesuchenden schwer, Todesfantasien anzusprechen. Das Freiwilligen-Team sei deshalb geschult, sie direkt anzusprechen. Die Suizidalität zu benennen, könne die Betroffenen bereits entlasten. «Insbesondere älteren Menschen kann es ganz besonders schwer fallen, ihre Suizidgedanken offen zu äussern», sagt Baumgartner.
Vor kurzem starteten die SBB und der Kanton Zürich die Präventionskampagne «Reden kann Retten». Sie soll Suizidgefährdeten und Angehörigen ebenfalls eine Anlaufstelle bieten.
«Dargebotene Hand»: Telefonnummer 143 für Erwachsene, bzw. 147 für Jugendliche
Die erste Tragödie geschah vergangene Woche im Spital in Affoltern am Albis. In der Nacht auf Mittwoch. Der 83-jährige Mann schlich unbemerkt ins Zimmer seiner gleichaltrigen Frau – und erschoss sie. Danach richtete er sich selbst.
Fest steht: Beide Paare waren betagt, beide lebten seit Jahrzehnten zusammen. Symbiotisch, wie Nachbarn gegenüber verschiedenen Medien sagten. Isoliert auch. Und beide Männer pflegten ihre kranken Frauen. Die beiden Paarsuizide haben einen Beigeschmack von Tötung aus Liebe. Das mutet romantisch an.
Ein Trugschluss, wie die Basler Psychiatrieprofessorin Gabriela Stoppe sagt. Allein schon die Suizidmethode ist kein sanftes Entschlafen. Nicht ohne Grund. «Paarsuizide werden oft durch Schusswaffen ausgeführt. Weil der Mann die Sache in die Hand genommen hat.» Bei Männern sind Schusswaffensuizide am häufigsten. Frauen greifen eher zu Medikamenten – Tod durch Vergiftung.
Am Freitag knallte es erneut, diesmal im Aargau. Die Polizei meldete, dass ein Ehepaar in einer Wohnung tot aufgefunden worden war. Beide mit Schussverletzungen. Wieder soll einer von beiden der Schütze gewesen sein. Wer, ist in diesem zweiten Fall noch unklar.
Manche pflegen die Gattin oder den Gatten über lange Zeit hinweg. Bis über ihre Leistungsgrenze hinaus, sagt Stoppe, die sich in ihrer Praxis auf ältere Menschen spezialisiert hat. «Diese Belastungssituation kann dazu führen, dass die Pflegenden irgendwann nicht mehr weiterwissen und beschliessen, dem Leiden auf beiden Seiten ein Ende zu setzen.» Vor allem wenn das Paar sich von seiner Umwelt abgekapselt hat.
Der Auslöser kann auch ein anderer sein: Zwei Leben sind zu einem einzigen verwachsen. «Viele können sich nicht vorstellen, ohne den anderen zu leben», sagt Stoppe. Das zeigt sich vor allem dann, wenn der Tod der liebsten Person immer näher rückt. «Dann kommt vielleicht Verzweiflung hoch, auch Aussichtslosigkeit.» Führen diese Gefühle zu einer Selbsttötung, wie in Oftringen und Affoltern, zieht das die mediale Aufmerksamkeit auf sich.
Oft liegt eine Depression zugrunde
Dabei kommen Paarsuizide eher selten vor, sagt Stoppe. Viel häufiger sei es, dass Senioren sich allein das Leben nehmen. 2015 haben 1071 Menschen Suizid begangen. Davon waren laut Bundesamt für Statistik rund ein Drittel Rentner. Die Zahl der Selbsttötungen blieb in den vergangenen Jahren etwa konstant.
Anders sieht es bei der Sterbehilfe aus. Auf diese Weise sterben immer mehr Menschen. Zum Vergleich: 2015 schluckten 965 Menschen das tödliche Medikament Natrium-Pentobarbital; im Jahr 2000 waren es erst 86 gewesen. Vor allem Rentner treiben die Zahlen in die Höhe. Sie machen rund 85 Prozent aller Sterbehilfetoten aus.
Ob assistiert oder nicht – hinter einem Suizid bei älteren Menschen steht nicht selten eine Depression. Diese macht die Senioren lebensmüde. Verstärkt wird der Zustand, wenn körperliche Beschwerden wie Schlafstörungen, Augenkrankheiten oder Schmerzen dazukommen. Ziehen sich die Betroffenen in die Isolation zurück, kann das den Sterbewunsch vergrössern.
Eine weitverbreitete Haltung in der Gesellschaft erleichtert dies, sagt Stoppe: «Für viele scheint es normal zu sein, dass ältere Menschen unglücklich sind.» Wenn also die Grossmutter ständig klagt und morgens schlecht aus dem Bett kommt, wenn der Grossvater ständig müde und besorgt ist – all das gehört zum Älterwerden dazu. Vermeintlich. «Oft wird die Depression verkannt, von den Betroffenen, den Angehörigen wie von Hausärzten», sagt Stoppe. Das kann tödliche Folgen haben.
Anzeichen gibt es, wenn auch häufig nonverbale. Jacqueline Minder, Chefärztin für Alterspsychiatrie in der Integrierten Psychiatrie Winterthur, sagt: «Die ältere Generation hat kaum gelernt, über ihr seelisches Befinden zu sprechen.» Erhöhte Aufmerksamkeit sei angebracht, wenn sich der psychische Zustand einer älteren Person plötzlich verschlechtert.
Das zeigt sich beispielsweise durch einen abrupten sozialen Rückzug oder eine bisher unbekannte Gereiztheit. Stirbt der langjährige Ehepartner oder wird im hohen Alter eine schwere Erkrankung diagnostiziert, sind dies zudem kritische Lebensereignisse, die suizidale Gedanken auslösen können.
Angehörige sollten nachfragen
Über Suizidalität zu sprechen, überfordert nicht nur ältere Menschen. Nicht selten würden Angehörige, Freunde oder Verwandte reflexartig beschwichtigen oder das Thema wechseln, sagt Minder. Doch welches sind die richtigen Worte? Wie lässt sich durch ein solch heikles Gespräch navigieren? Zentral sei, sich dem Thema nicht zu verschliessen, sagt die Expertin.
Sie empfiehlt: nicht um den heissen Brei reden, sondern konkret nachfragen. Das könne gleichwohl subtil erfolgen. Zum Beispiel mit einer Frage wie: «Wärst du froh, du würdest einschlafen und nicht mehr aufwachen?» Wichtig sei es, mit der Person im Kontakt zu bleiben und die Beziehung zu pflegen.
Diese Rolle kann rasch überfordern. Minder rät solchen Vertrauenspersonen deshalb, Hilfe beizuziehen. Lehnt der Betroffene psychiatrische Hilfe ab, sei es ratsam, ihn auf niederschwellige Angebote aufmerksam zu machen. Minder nennt dafür ein Gespräch mit der «Dargebotenen Hand», dem Hausarzt oder einem Seelsorger.
von Annika Bangerter und Rebecca Wyss — Nordwestschweiz