
Vom Rothrister Gemeinderat zur Auswanderung gezwungen worden

In der Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich die Schweiz im Umbruch. Die Bevölkerung wuchs, die Landwirtschaft erfuhr Veränderungen und die Heimindustrie wurde langsam aber sicher von der Fabrikindustrie abgelöst. Dies hatte zur Folge, dass breite Teile der Bevölkerung verarmten. Aus der ganzen Schweiz wanderten verarmte Familien ab ins Ausland.
Die grösste organisierte Auswanderung des Aargaus fand 1855 aus Rothrist heraus, das damals noch Niederwyl hiess, statt. 305 Personen wanderten gemeinsam in die Vereinigten Staaten aus, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Organisiert wurde der Exodus vom damaligen Rothrister Gemeinderat. Aber nicht alle traten die Reise freiwillig an. Als sich auf einen Aufruf nicht genug arme Familien und Einzelpersonen freiwillig für die Auswanderung meldeten, bestimmte der Gemeinderat rund 150 weitere Personen, die ebenfalls auszuwandern hatten. Darunter waren nebst
armen Familien auch alleinerziehende Mütter. Als Zielort wurde St. Louis in Missouri gewählt, wo sich dann auch ein Grossteil der Rothrister nach der rund siebenwöchigen Reise niederliess.
Eine weitere Schiffsladung Arme auf dem Weg
Die Vereinigten Staaten hatten wenig Freude daran, als Auffangbecken für arme Schweizer zu dienen. Ein Zeitungsbericht der New York Times vom 30. März 1855 zeigt das. Unter dem Titel «More Paupers from Switzerland – Another Ship Load on the Way», also «Mehr Arme aus der Schweiz – eine weitere Schiffsladung auf dem Weg» – veröffentlichte die Zeitung einen Brief aus dem US-Konsulat in Zürich, der unter anderem auch an den Bürgermeister von New York ging. Darin berichtet der Konsul, dass 320 der Ärmsten der Armen der Gemeinde Niederwyl in die USA geschickt würden. Einer davon war Johann Jakob Schmitter, der sich in Iowa niederliess. Der arme Rothrister kam durch die Auswanderung doch noch zu Reichtum und war dank einer Hochzeit am Ende seines Lebens Besitzer einer Farm.
Johann Jakob Schmitters Nachfahren waren schon oft in Rothrist. 2019 besuchten der heute 80-jährige Eric Dean Schmitter und seine 77-jährige Frau Marilyn Schmitter das Dorf ihrer Vorfahren. Die beiden leben heute in Santa Monica, Kalifornien. Das erste Mal besuchten Eric und Marilyn Schmitter Rothrist 1970. «Als wir das zweite Mal hier waren, wurde die Glasmalerei in der Kirche mit dem Familienwappen gerade restauriert, sehr zur Enttäuschung unserer damals kleinen Söhne», erzählt Eric Schmitter. Ihr Sohn Matthew besuchte Rothrist 2018 schliesslich selbst mit seinen drei Kindern.
Auf der Spurensuche nach der Geschichte ihrer Vorfahren erlebten Eric und Marilyn Schmitter auch Überraschungen. «Es war ungewöhnlich herauszufinden, dass mir meine Familiengeschichte zuhause immer falsch erzählt wurde», sagt Eric Schmitter. So wusste er nicht, dass sein Ur-Urgrossvater im Armenhaus gelebt hatte und wohl zu den nicht ganz freiwillig Ausgereisten gehörte.
Ur-Urgrossvater kämpfte auf der Seite der Union
Was sie dafür wissen, ist, dass Johann Jakob Schmitter im amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) in der «Union Army» gekämpft hat. Er war Teil einer Kavallerieeinheit. Nach seinem Tod am 7. Juli 1862 wurde er auf dem Union National Cemetery in Corinth, Mississippi, beigesetzt.
Eric und Marilyn Schmitter freuen sich indes auf ihren nächsten Besuch in Rothrist, der schon bald erfolgen soll. «Die Menschen in Rothrist waren immer extrem gastfreundlich, nahmen sich Zeit, unsere Fragen zu beantworten und uns wichtige Orte aus unserer Familiengeschichte zu zeigen», erzählt Eric Schmitter.