War es Vergewaltigung oder einvernehmlicher Sex?

Es sei eigentlich ein klassischer Fall einer Vergewaltigung, befand der Anwalt der Zivilklägerin in seinem Plädoyer vor dem Bezirksgericht Zofingen. Zum einen sei das Opfer leicht beeinflussbar gewesen. Zum anderen seien die Taten von einem Bekannten verübt worden. Der heute 29-jährige Beschuldigte war zum Tatzeitpunkt der Oberstift seines angeblichen Opfers, einer heute 26-jährigen Schweizerin. Die beiden absolvierten im selben Betrieb ihre Ausbildung als Koch. «Ich fand ihn am Anfang sehr sympathisch», erinnerte sich die junge Frau bei der Befragung durch die Richter. Bereits kurz nach Lehrbeginn im Sommer 2009 aber, habe der Beschuldigte angefangen, sie während der Arbeit unsittlich zu berühren. «Er fasste mir an die Brüste, an den Po oder zwischen die Beine», sagte die junge Frau. Dabei habe er ihr gedroht, wenn sie jemanden etwas sagen würde, würde er ihren Eltern etwas antun. Weil die junge Frau wusste, dass ihr Oberstift im Jugendheim Aarburg untergebracht war, glaubte sie, dass er tatsächlich dazu fähig wäre. «Ich hatte Angst und wollte meine Liebsten schützen», gab sie unter Tränen zu Protokoll.

In Umkleidekabine vergewaltigt?
Im November 2009 soll der Beschuldigte die junge Frau dann gezwungen haben, ihn oral und mit der Hand zu befriedigen. Einen guten Monat später nahmen beide Lehrlinge an der Weihnachtsfeier ihres Arbeitgebers teil. Nach einem feuchtfröhlichen Abend übernachteten die beiden gemeinsam bei einer Arbeitskollegin. In dieser Nacht soll der damals 18-Jährige seine Unterstiftin mehrmals anal vergewaltigt haben. Eingeschüchtert von diesen Übergriffen und seinen stetigen Drohungen gegen ihre Familie wehrte sich die junge Frau auch nicht gross, als ihr Oberstift sie wiederum einige Monate später nach Arbeitsschluss in die Umkleidekabine des Lehrbetriebs führte. Dort soll er sie dann zum Geschlechtsverkehr gezwungen haben. Eine Woche später kam es laut den Aussagen der Frau nochmals zum selben Vorfall. «Ich habe ihm immer gesagt, dass ich das nicht will», sagte die Frau aus. Ob und wie heftig sie sich in den Momenten der Übergriffe körperlich gewehrt habe, daran konnte sich die junge Frau nicht mehr erinnern. «In meinem Verständnis sollte ein Nein als Ablehnung ausreichen», erklärte sie. «Ich frage mich aber bis heute, weshalb ich mich nicht mehr zur Wehr gesetzt oder Hilfe geholt habe.»

Zweifel an Opferaussagen
Der Beschuldigte wies die ihm zur Last gelegten Taten von sich. Es sei zwischen ihm und dem angeblichen Opfer nie zu Geschlechtsverkehr gekommen. «Wir hatten Oralsex und Petting», gab der Mann an. «Aber es geschah alles in gegenseitigem Einvernehmen.» Sie beide hätten ein gutes Verhältnis gehabt, seien Freunde gewesen. Er sei ausserdem in seine Unterstiftin verliebt gewesen, was diese auch gewusst habe. «Sie war sich aber unsicher, ob sie eine Beziehung mit mir wollte», erinnerte sich der Beschuldigte. Zu keinem Zeitpunkt habe sie ihm gesagt, dass sie keinen sexuellen Kontakt mit ihm wolle. Vielmehr habe sie mit ihm geflirtet, ihm ebenfalls eindeutige Avancen gemacht. Die Version des Beschuldigten wird von Aussagen des Lehrmeisters gestützt. Dieser sagte gegenüber der Polizei aus, die junge Frau sei oft in ihrer Freizeit im Lehrbetrieb vorbeigekommen, um mit ihrem vermeintlichen Peiniger einen Kaffee zu trinken. Die beiden hätten immer vertraut und freundschaftlich verbunden gewirkt. Im Lehrbetrieb ging zudem das Gerücht um, die beiden seien ein Paar. Ausserdem nahm die junge Frau ihren Oberstift auch mit zu sich nach Hause, wo sie ihn ihren Eltern vorstellte. Auch die Staatsanwaltschaft hegte offenbar Zweifel an den Schilderungen des Opfers. Das Verfahren war mangels Beweisen bereits vor einiger Zeit eingestellt worden. Das Opfer legte Beschwerde beim Obergericht ein. Das Obergericht hob die Einstellung auf und verfügte, dass Anklage erhoben werden muss. Somit hatten sich die Zofinger Bezirksrichter mit dem Fall zu befassen.

Der Staatsanwalt fordert für die mehrfache Vergewaltigung und die mehrfache sexuelle Nötigung eine Freiheitsstrafe von 3 ½ Jahren. Die Zivilklägerin verlangt eine Genugtuung von 35000 Franken. Aus Sicht des Verteidigers hat aufgrund mangelnder Beweise und erheblichen Zweifeln an den Darstellungen des Opfers ein Freispruch zu erfolgen. Das Urteil des Bezirksgerichts steht noch aus.