Warum die Schweiz immer tiefer im Müll grübelt

In Kölliken sehnt man sich nach dem Tag, an dem die Leute aus dem Rest der Schweiz wieder fragen müssen: Wo liegt das? Es ist bald so weit: Die Sanierung der Sondermülldeponie, die 1978 zum Nutzen der Basler Chemie eröffnet worden war, ist nach 13 Jahren und 900 Millionen Franken abgeschlossen. Das riesige Dach über dem grossen Loch, das jedem Autofahrer auf der A1 während der Fahrt durch den Aargau den Standort der berühmt-berüchtigten Gemeinde überdeutlich angezeigt hatte, ist inzwischen abgeräumt. Kölliken darf endlich wieder ein normales Dorf werden.

Gelohnt hat sich die kostspielige und europaweit beispiellose Sanierung allemal – nicht nur für Kölliken. Das Umweltgesetz von 1995 verpflichtete Kantone zur Transparenz über belastete Standorte. Landauf, landab wurden 3000 sanierungsbedürftige Deponien gefunden. Zehn Jahre später legte ein neues Umweltgesetz fest, wer die geschätzten Kosten von fünf Milliarden Franken für die Sanierung zu tragen hat.

Schweizer Engagement
Gelöst wurde das Problem mit dem Sondermüll damit aber nicht. Es wurde verlagert. Ein bedeutender Teil des Kölliker Aushubs wurde exportiert. In Form von Filteraschen und Schlacken landete er zum Beispiel in einem ehemaligen Salzbergewerk in Heilbronn D. So verdoppelte sich 2010 bis 2016 der Exportanteil am gesamten Schweizer Sondermüllaufkommen auf fast 20 Prozent. Der Anstieg sei hauptsächlich auf die forcierte Sanierung von Altlasten zurückzuführen, so das Bundesamt für Umwelt (Bafu). «Zur Behandlung der daraus entstehenden Abfälle fehlen in der Schweiz insbesondere die Kapazitäten zur thermischen Behandlung solcher Abfallmengen.» Auch ohne den Stoff aus Kölliken blühte in der Schweiz ein obskures Geschäft mit dem Export von Sondermüll auf. Citron, ein mit Schweizer Kapital und Schweizer Know-how gegründetes Unternehmen zur thermischen Aufbereitung und Rezyklierung von Sondermüll bei der französischen Hafenstadt Le Havre, erlebte nach der Gründung 1997 einen veritablen Boom. Die Aktien galten unter hiesigen Investoren als Geheimtipp. Schweizer Kehrichtverbrennungsanlagen und andere Adressen verfrachteten während über einem Jahrzehnt jährlich bis zu 20 000 Tonnen schwermetallhaltige Schlacken, Filteraschen und andere giftige Abfälle an den Atlantik. In einer Mischung aus Naivität und Wunschdenken vertraute man den Versprechen der Betreiber, der Müll werde nach der Hitzebehandlung in wiederverwertbare Elemente geteilt und zurückgeführt in den Wertstoffkreislauf.

Das Glück im Unglück
Warnungen lokaler Umweltbehörden wurden sowohl von den Schweizer Exporteuren als auch auch von lokalen PolitBehörden in den Wind geschlagen. 2010 flog der Schwindel endgültig auf. Citron musste nach vielen Pannen und Unfällen Konkurs anmelden. Der Zürcher Patron Michael Brüggler wurde vor zwei Jahren erstinstanzlich zu drei Jahren Haft verurteilt. Der Rekurs ist hängig. Während die Citron-Fabrik langsam zerfällt und ein 80 000 Tonnen grosser Haufen von mehr schlecht als recht verbranntem Sondermüll den Boden auf und um das Werk verseucht, fragt man sich in Rogerville, wer diese Altlasten dereinst entsorgen wird. Und vor allem: Wer die dafür nötigen 50 oder gar 100 Millionen Euro dafür aufbringen soll. Die letzten Abfalllieferungen vor dem Konkurs hat die Schweiz mit 900 000 Franken zurückgeholt. Damit hat sie laut Bafu ihre «internationalen Pflichten» erfüllt.

Doch der Skandal blieb nicht ohne Wirkung. «In der Abfallwirtschaft war Citron ein Glücksfall», sagt Stefan Schlumberger, ein Spezialist für nass-chemische Verfahren zur Rückgewinnung von Wertstoffen in der Kehrichtverbrennungsanlage Zuchwil. Der Fall habe gezeigt, dass der Preis allein in der Abfallentsorgung falsche Signale setzt. Mit der 2016 in Kraft gesetzten Verordnung über die Vermeidung und Entsorgung von Abfällen (VVA) könnten sich die Spielregeln im Abfallgeschäft erneut ändern. Mit Schwermetallen durchsetzte Filteraschen aus den 30 Kehrichtverbrennungsanlagen sollen ab 2021 nur noch in der Schweiz aufgearbeitet werden. Noch vor 20 Jahren wurden sie vollständig exportiert. Die saubere Aufbereitung ist zwar um einiges teurer als die rund 250 Euro pro Tonne, mit denen sich Firmen wie Citron im Wettbewerb mit den nicht viel billigeren Untertagdeponien zu behaupten versucht hatten. Wird der Prozess technisch und ökologisch sauber durchgeführt, resultieren am Ende grosse Mengen an wertvollen, wiederverwertbaren Metallen.

«Schlacken und Filteraschen der Kehrichtverbrennungsanlagen zu verschachern oder in Deponien zu versenken, war noch nie eine schlaue Strategie», sagt Rainer Bunge, Professor für Umwelttechnik an der Fachhochschule Rapperswil. Dank neuer Verfahren, an denen Leute wie Schlumberger arbeiten, soll die Rückgewinnungsquote in den nächsten Jahren weit über die bisherigen 50 Prozent steigen. Bunge spricht von «urban mining», vom städtischen Bergbau oder der Suche nach Rohstoffen im Siedlungs- und Industrieabfall.

Sammeln und trennen reicht nicht
Selbst wenn urbane Rohstoffminen aus ihrer Produktion nicht ganz so viel Ertrag lösen können, wie Bunge erwartet, muss das für die neue Schweizer Abfallpolitik kein Nachteil sein. Die hohen Recycling-Kosten sind letztlich vielleicht der stärkste Anreiz zur Vermeidung unnötiger Abfälle. Seit die Chinesen im März den Import von europäischem Plastikabfall gestoppt haben, erfahren die Deutschen, dass fleissiges Sammeln und Trennen nicht die finale Lösung ist. Die Wiederverwertungslüge, so die «Zeit», habe eine gewaltige Abfallindustrie geschaffen, in der es in Wirtschaft und Politik kaum mehr jemanden gäbe, der ein Interesse an weniger Abfall habe.