
Was war der beste Entscheid, was völlig daneben? Drei Aargauer Nationalräte und ihr Fazit zur Sondersession
Diese Woche stand im Zeichen der Coronasession der Eidgenössischen Räte. Sie hiessen Darlehen an KMU von 40 Milliarden Franken gut, ebenso 6 Milliarden Franken für die Arbeitslosenversicherung. Zusätzlich darf sich diese mit bis zu 8 Milliarden Franken verschulden. Für den Erwerbsersatz für Selbstständigerwerbende wurden insgesamt 5,3 Milliarden Franken bewilligt, 2,58 Milliarden Franken für den Kauf von Masken, Operationsschürzen und anderem Schutzmaterial, Beatmungsgeräten, Defibrillatoren, Testkits, Medikamenten und Impfstoff.
Dazu kommen 1,28 Milliarden Franken zur Sicherung von Darlehen an die Fluggesellschaften Swiss und Edelweiss sowie 600 Millionen Franken zur Unterstützung flugnaher Betriebe. Weitere grössere Beschlüsse betreffen Kultur (280 Millionen), Sport (100 Millionen, Kindertagesstätten (65 Millionen).
Wir fragten drei Aargauer Nationalräte aus SVP, SP und CVP stellvertretend für alle 16, wie sie zu den getroffenen Beschlüssen stehen, was sie anders gemacht hätten, und was noch zu tun ist.
Welche Noten geben Sie dem Bundesrat für sein Krisenmanagement wegen Corona?
Andreas Glaner: Der Bundesrat handelte anfangs überlegt und wandte das Notrecht mit Augenmass an. Auch die Kommunikation war vorbildlich – also Note 6. Leider fand er dann den Weg aus dem Lockdown nicht, verhedderte sich in Widersprüchen und fällte völlig unverständliche Entscheide – zum Beispiel, dass Tattoo-Studios öffnen dürfen – Waschanlagen für Autos hingegen nicht. Hierfür die wohlwollende Note 3.
Cédric Wermuth: Der Bundesrat hat im ersten Moment besonnen und klug gehandelt, vor allem im gesundheitspolitischen Bereich. Auch die ersten, schnellen Massnahmen der Wirtschaftshilfe waren richtig. Dann aber hat offensichtlich bei der FDP-SVP schnell wieder die Ideologie überhand gewonnen. Nur so erklärt sich, dass der Bundesrat zwar alle möglichen Grossfirmen grosszügig retten will (was durchaus wichtig ist), aber gleichzeitig Kindertagesstätten, Eltern, Selbständige und Mieter bis heute hat im Regen stehen lassen.
Ruth Humbel: Ich gebe dem Bundesrat gute Noten. Er hat in dieser Krise angemessen und verhältnismässig gehandelt. Wir sind bis jetzt glimpflich davongekommen. Wenn die Lockerung der Massnahmen in ein normales wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben als zu zögerlich kritisiert werden, ist zu bedenken, dass unsere Wirtschaftskrise viel stärker durch die Schliessung der Grenzen und die internationale Lage beeinflusst wird als durch die Massnahmen des Bundesrates. Stehen Europas Autobauer still, bringt das auch Schweizer Zulieferer in Not. Bleiben die Grenzen geschlossen, kommen keine Touristen.
Welches war für Sie der beste Entscheid der Session?
Andreas Glarner: Der beste Entscheid war, dass die Grenzen weiterhin kontrolliert werden und die Personenfreizügigkeit vorläufig aufgehoben bleibt. Es kann ja nicht sein, dass in der grössten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg die Personenfreizügigkeit mit der masslosen Zuwanderung wieder eingeführt wird, wenn gleichzeitig hunderttausende Schweizerinnen und Schweizer ihre Stelle verlieren.
Cédric Wermuth: Die Wirtschaftskommission des Nationalrates hat gegen meinen Widerstand eine Vorschlag für eine absolute Harakiri-Öffnung gemacht. Das wäre völlig fahrlässig gewesen. Zum Glück gab es auch in den bürgerlichen Parteien genug besonnen Stimmen, die dieses Vorhaben am Schluss gebodigt haben. Wir müssen so schnell wie sicher möglich zur Normalität zurück – aber eben auch nur so schnell wie sicher möglich.
Ruth Humbel: Beide Räte haben eine Motion der Gesundheitskommission überwiesen, welche eine risikobasierte Präventions- und Krisenstrategie verlangt bezüglich Medikamentenversorgung, Schutzmaterial und Monitoring. Zu würdigen ist zudem, was das Parlament nicht gemacht hat: Der Verzicht auf eigene Notverordnungen und eine gewisse Zurückhaltung beim Versuch, den Bundesrat einzuengen. Die Krise ist noch nicht überwunden und die Verantwortung liegt weiterhin beim Bundesrat. Das wichtigste Geschäft der Session war die Genehmigung der Verpflichtungskredite zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Krise.
Stehen bedeutet Zustimmung: Mitglieder des Ständerats in der Berner Messehalle während der Sondersession.
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Welcher Entscheid ging aus Ihrer Sicht völlig daneben?
Andreas Glarner: Dieses Parlament brachte es tatsächlich fertig, nebst den über 3 Milliarden Entwicklungshilfe und den vom Bundesrat in Eigenregie beschlossenen zusätzlichen 400 Millionen nun nochmals weitere 100 Millionen ins Ausland zu senden. Dies in einer Zeit, in der bald hunderttausende Bürgerinnen und Bürger ohne Arbeit sein und von massiven Existenzängsten geplagt sein werden.
Cédric Wermuth: Dass sich die Immobilienlobby in der Mietfrage auf ganzer Linie durchsetzt, ist erschreckend. So lässt das Parlament Tausende KMU weitere lange Wochen im Ungewissen. Für viele wird es zu spät sein. Zweitens hat der Ständerat das Dividendenverbot bei Kurzarbeit wieder gekippt. Das ist ein Affront gegen die Lohnabhängigen und die Steuerzahler: Sie tragen 100 Prozent der Kosten, bekommen aber nur 80 Prozent des Lohns. Die Aktionäre behalten die volle Dividende. Drittens hat es das Parlament verpasst, die Rettung der Swiss an ökologische Bedingungen zu knüpfen. Diesen Fehler werden unsere Kinder teuer bezahlen.
Ruth Humbel: Drei Entscheide erachte ich als daneben. Das Parlament will für eine freiwillige Tracing-App trotz Datenschutzgesetz eine spezielle gesetzliche Grundlage erarbeiten. Das gibt eine unnötige Verzögerung. Für das Mieterproblem lag ein vertretbarer Kompromiss mit je hälftiger Übernahme durch Vermieter und Mieter für die Zeit der Schliessung auf dem Tisch. Dieser ist an der Eitelkeit der Ständeräte gescheitert. Grosszügiger zeigte sich dieser mit dem Tourismus. Ich halte es mit Bundesrat Maurer: statt Steuergelder für Tourismuswerbung auszuschütten, müssen wir solidarisch sein und Ferien in der Schweiz machen.
Welches gewichtigste Problem kommt Ihres Erachtens wegen Corona zusätzlich auf die Schweiz zu?
Andreas Glaner: Es erwarten uns leider eine Rezession gewaltigen Ausmasses, eine enorme Arbeitslosigkeit und dazu eine Verschuldung, welche wohl über mehr als eine Generation abgebaut werden muss. Statt die Chance für eine Revitalisierung der Wirtschaft durch Abbau sämtlicher bürokratischer Regelungen, unnötiger Gesetze und Vorschriften zu nutzen, wurden Eingriffe in unsere Ordnung, vor allem auch in die Eigentumsrechte vorgenommen, welche wohl nicht so schnell wieder aufgehoben werden können. Wer nach dem Staat ruft, wird ihn nicht so schnell nicht mehr los.
Cédric Wermuth: Sicher werden die wirtschaftlichen Folgen lange spürbar sein. Bereits beginnt im Parlament die Auseinandersetzung, wer die Krise bezahlen soll. Starke Kräfte möchte die Kosten voll auf die Menschen überwälzen, z.B. über die Mehrwertsteuer oder Lohnabzüge. Das werden wir mit allen Mitteln verhindern müssen.
Ruth Humbel: Die rund 69 Milliarden Franken Verpflichtungskredite, welche das Parlament gesprochen hat, werden lange und tiefe Spuren hinterlassen (Zum Vergleich: Jahresbudget des Bundes beträgt 72 Milliarden Franken.) Die Wirtschaft wird sich nicht so schnell erholen, was zu einer grösseren Arbeitslosigkeit, zu Steuerausfällen und tieferen Sozialversicherungseinnahmen führt. Das macht insbesondere nötige Reformen der Sozialversicherungen noch schwieriger. Zu bedenken ist, das wir diese Krise noch nicht überstanden haben. Solange kein Impfstoff zur Verfügung steht, gilt es die Hygiene-Regeln strikt einzuhalten.
Welchen Entscheid der Aargauer Regierung in der Coronakrise fanden Sie genau richtig, welchen gänzlich falsch?
Andreas Glaner: Dass man anfangs den ganzen Hype gelassen nahm und zurückhaltend handelte, war mehr als richtig. Dass der Regierungsrat die Beamten, welche ein Gartenmöbelgeschäft kurz nach der Eröffnung wieder zur Schliessung zwangen, nicht zurückpfiff, war einfach nur peinlich.
Cédric Wermuth: Sie hat mit ihrem wichtigen Programm zur wirtschaftlichen Hilfe einige Lücken schnell und unbürokratisch geschlossen. Das war Krisenmanagement auf der Höhe. Gesundheitspolitisch hat die Regierung allerdings Signale ausgesendet, die Bern eher einen chaotischen Eindruck gemacht haben. Zuerst war Gesundheitsdirektor Gallati gegen das Veranstaltungsverbot, dann schreibt die Regierung plötzlich einen offenen Brief, anstatt sich in den dafür vorgesehenen Gremien einzubringen. Der Verdacht, einige Regierungsräte hätten sich mit Blick auf die Wahlen im Oktober profilieren wollen, bleibt leider hängen.
Ruth Humbel: Insgesamt hat es die Aargauer Regierung gut gemacht. Sie hat offen kommuniziert, für die Institutionen Schutzmaterial beschafft und schnell wirtschaftliche Direkthilfe gesprochen. Der offene Brief der Aargauer Regierung an den Bundesrat war hingegen daneben. Unter Exekutiven sollte direkt und nicht via Schaufenster kommuniziert werden, insbesondere in der Krise. Dass es zu Beginn der Pandemie ein Pflegeheim in Zofingen mit infizierten Bewohnern und Mitarbeitenden hart getroffen hat, ist weniger dem Kanton anzulasten als der zuständigen Ärzteschaft, welche eine Behandlung verweigert hat.