Wem helfen die Grenzöffnungen? Den «Europäern»? Oder der SVP?

Die Frage traf den Punkt. «Braucht es mit der Grenzöffnung vom 15. Juni zwischen Österreich, Deutschland, Frankreich und der Schweiz Massnahmen gegen eine zu hohe Zuwanderung in den Schweizer Arbeitsmarkt?», wollte ein Journalist wissen. Die Staaten steckten ja in der Wirtschaftskrise und die Arbeitslosenquoten seien am Wachsen.

Die Antwort von Karin Keller-Sutter: In der Finanzkrise 2008 sei die Zuwanderung tatsächlich angestiegen. Die Schweiz sei damals von der Krise weniger stark betroffen gewesen, sagte die Justizministerin. Das sei 2020 anders. Die Coronakrise treffe alle «in etwa gleich stark». Massnahmen gebe es: flankierende Massnahmen, Überbrückungsrente, Inländervorrang.

Die Frage, welche die Politik umtreibt

Haben Coronakrise und striktes Grenzregime Folgen für die Begrenzungsinitiative, über die am 27. September abgestimmt wird? Sie will die Personenfreizügigkeit ausser Kraft setzen. Diese Frage treibt die Politik um.

Ja, glaubt man bei der SVP. Auch wenn dies Fraktionschef Thomas Aeschi nur indirekt festhält: «Was sagt uns diese Krise?», fragt er. «Die Landesgrenze hat grundsätzlich ihre Bedeutung.» Es sei wichtig, dass die Schweiz die Grenze in einer Krise eigenständig schliessen könne. «Es ist kein Zufall, dass die Grenzkantone Tessin, Genf und Basel-Stadt prozentual am meisten Corona-Fälle hatten.»

SVP glaubt, die Globalisierung verlangsame sich

Für Aeschi ist klar: Die Globalisierung wird sich verlangsamen. «Wir müssen uns wieder verstärkt fragen: Wie stellen wir unsere Versorgung mit Lebensmittel, Medikamenten, Schutzmittel und Energie sicher?» Es werde zu einem Umdenken kommen: «In der Krise war die Schweiz plötzlich auf sich alleine gestellt.»

SVP-Nationalrat Marcel Dettling, Kampagnenleiter der Initiative, kann das Vorgehen des Bundesrats nicht verstehen. «Der Bund hat Szenarien mit bis zu 7 Prozent Arbeitslosen aufgestellt», sagt er. «Es drohen uns Zehntausende von neuen Arbeitslosen.» Gleichzeitig öffne der Bundesrat die Grenzen bedingungslos, gebe die Reisebeschränkungen auf, also ob dies das wichtigste wäre. «Da gibt es massive Widersprüche.» Da die Personenfreizügigkeit wieder eingeführt werde, «braucht es die Begrenzungsinitiative, um dem Einhalt zu gebieten».

«Reisefreiheit ist eine hohe Errungenschaft»

Ganz anders beurteilt man die Lage bei den Befürwortern der Personenfreizügigkeit. «Die Reisefreiheit ist eine hohe Errungenschaft», sagt SP-Nationalrat Eric Nussbaumer. «Es ist zentral, dass sie wieder installiert wird.» Wenn die Infektionen unter Kontrolle seien, gebe es keine Begründung mehr für Reiseeinschränkungen. «Entscheidend ist die Pandemie, nicht das Schweizer Abstimmungsbüchlein.»

Der geschlossene Zollübergang Biel-Benken.

Der geschlossene Zollübergang Biel-Benken.

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Auch CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider denkt, es helfe im Kampf gegen die Initiative, «wenn in der Schweiz möglichst bald wieder Normalbetrieb herrscht». Sie konnte es nicht fassen, dass Militärhelikopter morgens um 6 Uhr über ihren Wohnort Biel-Benken (BL) der schweizerisch-französischen Grenze entlang flogen – und der Grenzübergang in der Nähe verriegelt wurde.

Massiver Druck hinter den Kulissen

Die geschlossenen Grenzen waren für Basel ein Schock. Die Handelskammer beider Basel macht seit Tagen Druck für eine Öffnung der Grenzen. Am 8. Mai schrieb sie mit der Zürcher Handelskammer, den Industrie- und Handelskammern Thurgau und St. Gallen-Appenzell einen Brief an den Bundesrat. Es drohe eine «massive Rezession».

Gestern doppelten die Industrie- und Handelskammern entlang der Südgrenzen zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz mit einem «dringenden Appell» nach – an Deutschlands Innenminister Horst Seehofer, den französischen Innenminister Christophe Castaner und an den Schweizer Innenminister Alain Berset.

Economiesuisse lotet die Stimmung aus

Und wie beurteilt der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse die Situation? Wem hilft das strikte Grenzregime? «Das ist die entscheidende Frage», sagt Kommunikationschef Michael Wiesner. «Gibt es Grund zur Beunruhigung, weil die Bevölkerung Angst hat vor Zuwanderung in den Arbeitsmarkt? Oder sagt sie sich im Gegenteil, dass sie jetzt keine extremistischen Experimente will, weil es keine gleichwertige Alternative gibt zu den bilateralen Abkommen mit der EU?»

Die psychologischen Folgen seien «im Moment schwer einschätzbar», meint Wiesner. «Alle sind noch paralysiert von der Pandemie.» Economiesuisse wolle nun intern und mit den Partnerorganisationen ausloten, «ob und wie sich die Stimmung bei den Menschen verändert hat».