
Wie das Plastik all seine Freunde verlor
Röhrli: verboten. Wegwerfgeschirr: ebenso. Innert weniger Monate haben Regierungen auf der ganzen Welt weitreichende Plastikverbote angekündigt. Wie kam es dazu, dass ein Material all seine Freunde verlor?
Stück für Stück zieht die Umweltschützerin den Trinkhalm aus der Nase der Schildkröte. Allein der Anblick tut weh: Das Tier kneift die Augen schmerzgeplagt zusammen, Blut tropft aus der Nase. Ist es möglich, dass virale Videos wie dieses die Weichen in der Umweltpolitik neu gestellt haben? Ja, glaubt Marco Pfister, Fachexperte für Plastik bei Greenpeace Schweiz. «Ich bin überzeugt, dass solche Bilder – in Kombination mit den immer dringlicher werdenden Warnungen aus der Wissenschaft und dem steten Druck der NGO – bis in die höchsten Regierungsebenen ihre Wirkung entfaltet haben.»
Tatsächlich ging es Schlag auf Schlag: Zuerst gab Grossbritannien bekannt, Trinkhalme, Wattestäbchen und andere Einwegprodukte aus Plastik auf eigene Faust verbieten zu wollen. Auch ein Pfandsystem für Plastikflaschen sowie ein Verbot von Gratis-Plastiksäcken sind geplant im Königreich. Die Europäische Union konkretisierte kurz danach ihre Pläne, die häufigsten Wegwerf-Produkte aus Plastik zu verbieten. Die kanadische Regierung um Justin Trudeau will derweil die G-7-Staaten davon überzeugen, eine Zero-PlasticWaste-Charta zu unterzeichnen. Deren Ziele sind noch viel ambitionierter als jene der EU.
Schon vor einem Jahr hat die UNO eine weltweite Kampagne gegen Plastik im Meer gestartet. Und auch im Kleinen tut sich etwas – wie etwa das Beispiel der Stadt Neuenburg zeigt, die als erste Schweizer Stadt Plastik-Trinkhalme aus Restaurants und Bars verbannt.
Hiobsmeldungen jagen sich
Die Forschung gibt den Bemühungen Sukkurs: Im Januar warnten Wissenschafter am WEF, dass bis 2050 mehr Plastikteile als Fische im Meer schwimmen werden. Ende April vermeldeten Polarforscher eine Rekordkonzentration an Mikroplastik in der Arktis – 12000 Teilchen pro Liter Meereis. Nur Tage danach kam eine Studie der Universität Bern zum Schluss, dass rund 53 Tonnen Mikroplastik in den Schweizer Böden liegen. Selbst in entlegensten Naturschutzgebieten fanden die Forscher Plastikteilchen. Letzte Woche nun meldete der WWF, dass das Mittelmeer noch mehr mit Plastik verschmutzt sei, als die anderen Meere: Sieben Prozent des weltweiten Mikroplastiks schwimmen gemäss Hochrechnungen darin, obwohl das Mittelmeer nur ein Prozent des Wassers auf der Erde umfasst. Die Konzentration dieser Kunststoffpartikel sei fast viermal so hoch wie die des «Plastikwirbels» im nördlichen Pazifik.
Überliefert ist, dass die britische Queen höchstpersönlich dem Plastikmüll den Kampf angesagt hat, nachdem sie die Dokumentationsreihe «Blue Planet II» (2017) des preisgekrönten Naturfilmers David Attenborough gesehen hatte. Im Buckingham Palace sind Plastikröhrli und -flaschen seither tabu, wie der «Telegraph» berichtete. «Blue Planet II» war in Grossbritannien die erfolgreichste TV-Produktion des letzten Jahres.
Michael Stauffacher, Professor für Umweltsysteme und Politikanalyse an der ETH, bestätigt, dass emotionale Faktoren bei umweltpolitischen Entscheiden durchaus eine Rolle spielen. «Mit der Diskussion um Plastikabfälle im Meer spüren sicher viele Politiker einen starken Druck ihrer Wähler.»
Stauffacher identifiziert jedoch auch ganz praktische Gründe für den plötzlichen Eifer der Regierungen. So etwa, dass China verkündet hat, auf Anfang dieses Jahres keinen Altplastik aus dem Ausland mehr zu importieren. Davor waren 56 Prozent aller weltweiten Plastikabfälle in der Volksrepublik gelandet, wo sie wiederverwertet oder verbrannt wurden. Ein Teil davon landete laut Beobachtern aber im Meer. «Europa beginnt zu erkennen, dass die getrennte Sammlung von Plastik ohne eigene Recycling-Optionen ein heikler Pfad ist», so ETH-Professor Stauffacher. Das neue Prinzip heisst darum: Die Abfallberge reduzieren statt auslagern.
Die geplanten Gesetzesänderungen dürften zu einem gesellschaftlichen Umdenken führen, ist Konsumpsychologe Christian Fichter überzeugt. «Dem Plastik wird es ähnlich ergehen wie der Zigarette oder dem Pelz: Die soziale Akzeptanz wird drastisch sinken.» Wer seinen Drink mit einem Röhrli schlürft, könnte künftig schräge Blicke ernten.
Der Plastiksäckli-Effekt
Wie schnell sich die Konsumenten von alten Gewohnheiten verabschieden können, zeigt das Beispiel der Raschelsäckli an Supermarktkassen, deren Verbrauch um über 80 Prozent sank, als dafür 5 Rappen verlangt wurden. Laut Fichter ist der Fall «Raschelsäckli» ein Lehrstück in Sachen Wirtschaftspsychologie. «Wir Menschen sind kognitive Faulpelze. Manchmal reicht eine 5-Rappen-Gebühr, um uns von einer anderen Verhaltensweise zu überzeugen.» Dabei gehe es nicht um die finanziellen Einbussen. «Wenn etwas, das bisher gratis war, plötzlich kostet, veranlasst uns dies, über die Gründe nachzudenken», erklärt Fichter. Dazu komme der soziale Druck: «Wer jetzt noch ein Plastiksäckchen verlangt, fühlt sich fast schon als Umweltsünder.»
Marco Pfister von Greenpeace findet, nun gelte es, diese «Erfolgsstory» auf Einweg-Geschirr und weitere PlastikProdukte auszuweiten. «Es ist schäbig, wie die Schweiz derzeit auf der Bremse steht, während andere Staaten vorwärtsmachen.»
Bereits hievten Regula Rytz (Grüne) und Ursula Schneider Schüttel (SP) das Thema im Bundeshaus auf die politische Agenda. Sie forderten den Bundesrat auf, im EU-Kampf gegen den Plastik-Wegwerfartikel mitzuziehen. Doch dieser will nichts wissen von einem Verbot. Er argumentiert damit, dass das Littering-Problem in der Schweiz klein sei. Plastikabfälle landen bei uns in der Regel in der Kehrichtverbrennung – und nicht in Flüssen oder im Meer. Damit stellen Einweg-Plastikartikel «in der Schweiz kein direktes Umweltproblem dar, sofern sie richtig entsorgt werden», wie Michael Hügi, Experte für Siedlungsabfälle beim Bundesamt für Umwelt (Bafu), sagt.
Auf der politischen Ebene probiert es nun der grüne Nationalrat Bastien Girod noch mal: Er will per Vorstoss im Parlament ein Verbot für Wattestäbchen und andere Platikkleinteilchen erreichen. Doch freiwillige Branchenvereinbarungen wie jene gegen das Plastiksäckli wirken oft mehr. Konsumpsychologe Fichter sagt: «Beschliesst die Politik ein Verbot, wird dies als Bevormundung verstanden. Ein sanfter Schubser, im Fachjargon ‹Nudging›, kommt besser an.»