Wie sieben Antennen auf dem Kopf: Ich habe ADHS – als Erwachsene

Ich weiss, dass ich Geräusche schlecht vertrage. Dass mir manchmal die Sicherung durchbrennt, von einem Moment auf den anderen. Dass es Zeiten gibt, in denen ich innerhalb von ein paar Stunden die Arbeit erledige, für die andere Tage brauchen oder in einem Gespräch Zusammenhänge sehe, die andere nicht nachvollziehen können.

Ich wundere mich manchmal, warum Leute sich nicht bildlich an Vergangenes erinnern und es mich fast zur Weissglut treibt, wenn es im Restaurant hinter mir zieht. Ich höre das Gespräch am Nebentisch gleich laut wie das, welches ich selbst gerade führe, und manchmal, wenn ich einem Vortrag zuhören muss, der mich nur mässig interessiert, tut mein Körper physisch so weh, dass ich am liebsten aufstehen und wegrennen würde.

Doch ich habe mich im Griff. Ich leiste viel, wenn auch schwankend, von Null auf Hundert und zurück auf Null. Ich vergesse nie Termine, bin pünktlich, erinnere mich, wo meine Schlüssel sind. Ich kann nicht nachvollziehen, warum gewisse Leute schusselig sind, und ich hatte in der Schule immer gute Noten. Ich wurde dazu erzogen, still zu sitzen, und von aussen merkt man mir meine innere Anspannung, meine niedrige Frustrationstoleranz, meine Ängste selten an.

Natürlich, ich kann impulsiv sein, sehr direkt, ich versteh nicht immer, warum Konventionen aufrechterhalten werden, die keinem was nützen, und oft komme ich mit Themenvorschlägen oder Ansätzen, die besonders scheinen, obwohl ich nicht recht weiss, warum das so ist. Ich nehme die Welt offenbar anders wahr als viele andere, und lange dachte ich, das sei mein Problem. Einfach zu sensibel. Einfach zu impulsiv. Aber sonst? Habe ich mich gut arrangiert. Meistens zumindest.

ADHS äussert sich bei Erwachsenen oft anders als bei Kindern

Jetzt weiss ich: Ich habe eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Ausgerechnet ich. Bisher dachte ich immer: ADHS, das ist doch diese Krankheit, die Kinder haben, die nicht stillsitzen können. Das sind die Jugendlichen, die Ritalin schlucken, weil die Eltern nicht fähig waren, sie oft genug durch ein Waldstück zu jagen. ADHS, das sind die Buben, die dreinschlagen, die Leute, die Rechnungen verlieren, die Leute, die nichts auf die Reihe kriegen, die ewig Vernebelten.

Doch ich lag falsch. Es ist wie mit der Hochsensibilität oder anderen Dingen, die vererbt sind, von denen kaum jemand spricht, die aber viel mehr Menschen betreffen als allgemeinhin angenommen: Oft stossen wir nach Jahren der Verwirrung und des Leidens auf irgendeine Quelle, die einen Hinweis gibt, kaum jemand schaut auf die richtigen Zeichen. ADHS äussert sich im Erwachsenenalter oft anders als bei Kindern. Hauptsymptome sind laut «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5): Unaufmerksamkeit und Impulsivität.

Im Alltag heisst das übersetzt: Eine ständige Rastlosigkeit, Schwierigkeiten, sich über längere Zeit auf etwas zu konzentrieren, das man als mittelmässig oder gar nicht interessant empfindet. Emotionales Überreagieren, sieben Antennen auf dem Kopf: Ich nehme alles um mich herum wahr, alles ist gleich laut, alles zu intensiv.

Die Folgen sind oft Probleme in zwischenmenschlichen Interaktionen, das Gefühl, anders zu sein, Überreizung, Langeweile. Doch anders als Kinder haben viele erwachsene Betroffene mit den Jahren Strategien entwickelt, um mit den Symptomen umzugehen. Sei dies beispielsweise, dass sie freiberuflich arbeiten, projektbasiert, oder dass sie sich viel bewegen. ADHS? Kommt uns deshalb kaum in den Sinn.

Vier Prozent der Erwachsenen haben ADHS

Dabei leben vier Prozent der erwachsenen Bevölkerung mit ADHS oder ADS – die beiden Begriffe werden zunehmend synonym verwendet. Man geht davon aus, dass die Zahl konstant ist. ADHS tritt heute allerdings stärker zutage. Die vermuteten Ursachen: Die fortschreitende digitale Vernetzung und die damit einhergehende Reizüberflutung, Druck im Beruf und privat, eine zunehmende Strukturlosigkeit in allen Lebensbereichen. Trotzdem wird ADHS im Erwachsenenalter vielfach nicht diagnostiziert.

«In der Psychiatrie war die Tendenz lange: ADHS im Erwachsenenalter existiert nicht. Man ging davon aus, dass es sich auswächst», sagt der Psychotherapeut und ADHS-Experte Andreas Müller vom Brain Assessment Research Center Chur und Leiter der CH-ADHS-Studie. Auch heute noch sei die Diagnose in Fachkreisen umstritten. Für ihn, der sich seit Jahren neurologisch mit genau diesem Thema befasst, ist das Humbug. «Wir sehen ja in unseren Zentren täglich Menschen, die davon betroffen sind. Und wissenschaftliche Studien zeigen das auch.»

Die WHO-Kriterien (ICD-10) zu ADHS wurden seit 1992 nicht verändert und für das Erwachsenenalter nicht angepasst. Das Thema bei Erwachsenen sei eben noch weitgehend unerforscht, sagt Müller. Deshalb werde es auch oft noch nicht erkannt. Ich kam per Zufall darauf. Ein Freund, der sich hat testen lassen, sagte plötzlich zu mir: Du bist so ähnlich wie ich. Lass dich doch auch testen.

Das erste Mal quantitative Analyse, nicht nur Gespräche

Ich habe mich also zur Abklärung angemeldet, im BrainArc Zürich. Sechs Termine à 1,5 Stunden, zig Tests, auch Elektroden auf meinem Kopf. Es war die erste neurologische Abklärung meines Lebens, das erste Mal quantitative Analyse, nicht nur Gespräche, nicht nur Übungen, nicht nur Nachdenken über die Kindheit und die Vergangenheit und über prägende Erlebnisse, keine reine psychotherapeutische Auseinandersetzung, sondern auch Hirnströme messen.

Ich musste sehr viele, sehr langweilige Wiederholungsübungen machen. Sie haben ausgewertet, dass ich sehr geräuschempfindlich bin und mein Gehirn sich auch nach Stunden nicht an die Geräuschquelle gewöhnt. Dass es also für mich tatsächlich, neurologisch belegt, die Hölle ist, in einem vollen Zug zu fahren, und dass ich mich auch nach zwei Stunden nicht beruhige. Dass es nicht einfach mangelnde Willenskraft ist, wenn ich mich ablenken lasse, sondern schlicht neurologisch kaum möglich.

Natürlich, das Gehirn ist plastisch, gewisse Dinge kann man sich antrainieren. Und doch werde ich schneller, intensiver geflutet, von meiner Umgebung, von meinem eigenen Inneren, und muss Wege finden, damit umzugehen.

Ein weiterer, wichtiger Aspekt, weswegen ich nie auf diese Diagnose gekommen wäre: ADHS äussert sich bei Frauen anders als bei Männern. Wir sind oft keine Zappelphilipps oder drehen durch und schlagen Dinge kaputt. Oft nehmen wir Frauen die Anspannung und die Überflutung zu uns und schliessen sie ein und kehren alles nach innen. Dann sitzen wir auf Meditationskissen und versuchen, stärker in den Bauch zu atmen und uns anzupassen, an eine vermeintliche Mehrheitsgesellschaft, die sowieso nur in unseren Köpfen existiert und an die wir uns alle dann anpassen, und fragen uns ständig, was mit uns nicht stimmt.

Bei Frauen äussert sich die Krankheit anders als bei Männern

«Frauen wurden Jahrtausende dazu sozialisiert, dass sie sich im Griff haben und Verantwortung für die Familie übernehmen», sagt Experte Müller. «Deshalb richten sie ihre Anspannung nach innen. Nach aussen hin funktionieren sie oft tadellos.» Deshalb müsse man insbesondere bei Frauen auf andere Symptome achten. Und auch, so konträr das zuerst anmutet: Auf Erschöpfung.

Denn ADHS und Traumafolgestörungen sind sehr nah beieinander, und wer ADHS hat, der ist auch anfällig für Angststörungen und Depressionen. Gemäss Statistiken leiden 75 Prozent der Erwachsenen mit der Diagnose ADHS zusätzlich unter einer weiteren psychiatrischen Krankheit. Weil Körper und Psyche irgendwann, nach Jahren der konstanten Reizüberflutung, in den Rückzug gehen. Und sich weigern, weiter blind zu leisten.

Bei vielen bedeutet die Diagnose erstmal: Erleichterung

Ich habe viele Jahre versucht, mich zurecht zu biegen. Mich gefragt, warum ich nicht stetiger arbeiten, länger das Gleiche fühlen, ruhiger interagieren kann. Warum ich mich gefühlt jede Stunde für etwas Neues interessiere und mich nicht längerfristig in einer starren Alltagstruktur zurechtfinde.

Eine Diagnose kann auch deshalb helfen, den Teufelskreis zu durchbrechen. Der Impulsivität und der schlechten Emotionsregulation einen Namen geben. Dem ständigen Verzetteln einen Grund. «Viele Menschen sind erstmal erleichtert, wenn sie die Diagnose hören», sagt Müller.

Doch eine Diagnose alleine reicht nicht. Es müssen Taten folgen. Das kann in Form einer medikamentösen oder biosystemischen Psychotherapie sein. Dabei ist es wichtig, dass man sich eine Therapeutin oder einen Therapeuten aussucht, der sich mit ADHS auskennt.

Viel Bewegung und eine klare Struktur geben Halt und Hoffnung

Und im Alltag? Struktur und Bewegung, rät Müller. Das klinge erstmal banal, sei jedoch etwas vom Wichtigsten. «Das Ziel sollte immer sein, ruhig zu werden. Halt zu bekommen. Fragen Sie sich: Wie komme ich am Besten zur Ruhe? Was tut mir gut? Bauen Sie solche Dinge vermehrt in den Alltag ein. Und machen Sie sich Listen. Etablieren Sie Routinen und Rituale.» Natürlich ist das immer ein zweischneidiges Schwert. Weil wir ADHS’ler Struktur und Routine in der Regel hassen wie die Pest. Doch genau das, was uns oft langweilig anmutet, hilft uns auch, uns sensorisch und mental zu beruhigen.

Der ewige Kampf zwischen Unterforderung und Überreizung wird wohl ein Leben lang bleiben. Doch auch das lese ich während der Recherche zu diesem Text: «Unter den ADHS Betroffenen finden sich viele Hochbegabte. Sie können Menschen und Situationen sofort durchschauen. Sie hinterfragen alles, sind begeisterungsfähig und bereichern unser Leben. Die ADHS als eine Persönlichkeitsvariante hat viele gute Seiten, von denen man umso mehr profitieren kann, je besser Selbstwertgefühl und soziale Kompetenzen entwickelt sind.»

Bis dahin bleibt mir auch die Erkenntnis: Im Grunde stimmt mit mir alles. Wie mit Ihnen auch. Vielleicht haben Sie einfach ADHS. Herzlich Willkommen im Club der Spannenden und Überspannten.