Wieder aufstehen: Der Sieg der absoluten Willenskraft über die Motivation

Ricardo Rodriguez verschiesst den Penalty, einige Minuten später steht es statt 2:0 für die Schweiz plötzlich 1:2 für Frankreich. Und es kommt noch schlimmer – mit einem Wundertor erhöht Paul Pogba zum 1:3. Die Schweiz liegt am Boden, kein Mensch mehr setzt einen Pfifferling auf die Schweizer Nati im Spiel gegen den Weltmeister.

Die Mannschaft könnte, mental derart gestaucht, nun zusammenbrechen, es droht ein Debakel, 1:4, 1:5… Doch es kommt anders, die Schweiz besiegt den Weltmeister und nun suchen alle nach Erklärungen für dieses Wiederaufstehen im Schmerz und in der Niederlage. Wolfgang Jenewein ist Professor an der Universität St.Gallen und berät Führungspersonen in der Wirtschaft und im Sport. Auf seinem LinkedIn-Profil hat er ein Motivationsvideo zum Thema Leadership und Mannschaftsleistung an der EM veröffentlicht.

Leadership-Experte Wolfgang Jenewein von der Universität St.Gallen.

Leadership-Experte Wolfgang Jenewein von der Universität St.Gallen.

Mareycke Frehner

Egal was passiert, wir kämpfen bis zum Schluss

Er versucht zu erklären, wie man sich in einer an sich hoffnungslosen Lage mit einer solchen mentalen Last auf dem Rücken wieder befreit. Jenewein erinnert an das Interview, das Goalie Yann Sommer nach dem Penaltyschiessen gegeben hat: «Egal was passiert, wir wollten bis zur letzten Minute kämpfen.» In der einschlägigen Literatur nenne man dieses Phänomen «Von der ‹World of Wish›, in die ‹World of Will› gehen», sagt der Leadership-Experte. Das bedeutet, dass eine Mannschaft die totale Willenskraft entwickelt. Alle Teilnehmer einer solchen Endrunde wünschten sich Europameister zu werden, aber nur die besten brächten die Willenskraft dafür auf und wollten das wirklich. Jenewein sagt:

«Die Willenskraft in uns Menschen ist eine ganz andere Kraft als nur die reine Motivation.»

Motivation ist also gut und recht, entscheidend ist der Wille zu gewinnen und sich aus einer misslichen Situation zu befreien, wie das gestern die Schweizer Fussballnationalmannschaft gemacht hat. «Die Mannschaft hat gezeigt, wo der Unterschied liegt zwischen Motivation und Willenskraft.»

Der totale Zusammenbruch wäre möglich gewesen

Es wäre auch möglich gewesen, dass die Spieler in sich zusammenbrechen, die Hoffnungslosigkeit das Regiment übernimmt, und sich die Schweizer Fussballer gesagt hätten, der Weltmeister habe doch eine andere Kragenweite. Doch das ist nicht geschehen. Während die Franzosen als eine Ansammlung von Superstars von ihrem Sieg überzeugt waren, hat sich das Schweizer Team zusammengerauft und jeder hat für jeden gekämpft. «Die Querelen im Vorfeld, die Anfeindungen wegen des Coiffeurs und des Nichtsingens der Hymne hat die Mannschaft wahrscheinlich zusammengeschweisst», sagt der HSG-Professor.

Ein Einzelsportler muss die Kraft in einer solchen Situation in sich alleine finden, selbst Ressourcen aufbauen, um Widrigkeiten zu bekämpfen. Eine Mannschaft kann sich gegenseitig mitreissen. Gesehen hat man das, als Captain Granit Xhaka seine Mitspieler lautstark heiss gemacht hat: «Mir mached das!» Die Last liegt nicht nur beim Trainer, sondern auf mehreren Schultern im Team. Aber im Gegensatz zum Einzelsportler ist ein Mannschaftsspieler davon abhängig, dass auch die anderen diese Willenskraft aufbringen, um wieder aufzustehen.

Das haben auch jene gemacht, die sonst nicht so viel zum Einsatz kommen. Die Ersatzleute haben das Spiel nicht verschlechtert, sondern entscheidend zur Wende beigetragen. Sie hatten die gleiche Willenskraft, alles für den Sieg zu tun bis zur letzten Minute, wie die Stammelf.

Metapher für unsere Gesellschaft und die Wirtschaft

Diese Willenskraft des ganzen Teams hat diesen grandiosen Sieg möglich gemacht und eine gewaltige Reaktion im ganzen Land ausgelöst. Der Wirtschaftsprofessor hält dieses Aufstehen der Nati für eine schöne Metapher. «Wir sind schwer herausgefordert durch Corona und all die Veränderungen und Widrigkeiten», sagt Jenewein.

Das Spiel zeige der Nation, was in misslicher Lage möglich sei, wenn man miteinander und füreinander kämpfe, agil bleibe und nach vorne schaue, was nun in Coronazeiten für die Gesellschaft entscheidend sei. Das Spiel der Schweiz erinnert den bayrischen Professor ein wenig an das «Wunder von Bern». Deutschland lag 1954 nach dem Zweiten Weltkrieg am Boden und hat im WM-Final das übermächtige Ungarn bezwungen. Mit reiner Willenskraft so wie die Schweizer nun die Franzosen.