Wieso findet die Bundesfeier ausgerechnet am 1. August statt?

Im 19. Jahrhundert wurde versucht, ein Gründungsdatum der Schweiz zu finden. Da kam ein kurz zuvor wiederentdecktes Dokument gerade recht.

An den Ufern des Urnersees, auf der Rütliwiese, versammeln sich am Abend des 1. August 1291 Vertreter der Länder Uri, Schwyz und Unterwalden, um sich gemeinsam gegen die habsburgische Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Dazu wird ein Bund geschlossen, dessen Rahmenbedingungen in einer Urkunde in lateinischer Sprache festgehalten werden. Bundesbrief und Rütlischwur — so in etwa lautet die gängige Darstellung der Entstehung der Eidgenossenschaft. Teilweise wird daraus auch gleich die Gründung der Schweiz abgeleitet.

1291, nur ein Mythos?

Der Historiker Thomas Maissen beklagt in seinem 2010 erschienenen Buch «Geschichte der Schweiz», dass die Disziplin Schweizer Geschichte an den Schulen zu wenig Beachtung finde: «Anders als in den meisten Ländern, wo Nationalgeschichte als Voraussetzung staatsbürgerlicher Identität mit Nachdruck vermittelt wird.» Dem oft beklagten Halbwissen wollen wir hier etwas Abhilfe schaffen, legen dem Leser aber gleichzeitig auch die Lektüre der Bücher von Maissen ans Herz, die natürlich viel vertiefter in die Thematik einzutauchen vermögen als dieser kurze Text. Das Dokument von Anfang August 1291, das heute als Bundesbrief bezeichnet wird und im Bundesbriefmuseum in Schwyz besichtigt werden kann, stammt tatsächlich aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert und ist keine Fälschung aus späterer Zeit, wie es im Mittelalter gang und gäbe war, um Herrschaftsansprüche zu legitimieren. Mit Hilfe der 14C-Datierungsmethode konnte bewiesen werden, dass das verwendete Pergament mit grösster Wahrscheinlichkeit um 1280 gewonnen worden sei. Die Entstehung dieses Dokuments muss jedoch im Kontext der europäischen Geschichte gesehen werden. Zu jener Zeit gehörte das Gebiet der heutigen Schweiz zum Heiligen Römischen Reich (der Zusatz «Deutscher Nation» kommt erst im späten 15. Jahrhundert dazu), ein übernationales Gebilde, das von einem gewählten  König oder Kaiser regiert wird. 1250 stirbt Kaiser Friedrich II. Da sich die deutschen Kurfürsten, die den König oder Kaiser wählen, nicht einigen können, bricht eine königslose Zeit an. Diese als Interregnum bezeichnete Zeit nutzen lokale Kräfte aus, um ihre Herrschaft zu vergrössern. Rechtsunsicherheit prägt diese Epoche, die bis 1273 anhält. Dann wird Graf Rudolf IV. von Habsburg zum neuen deutschen König Rudolf I. gekrönt. Als Rudolf I. Mitte Juli 1291 stirbt, ist den Zeitgenossen das knapp eine Generation zurückliegende Interregnum noch in bester Erinnerung. Diesem Machtvakuum wollen sie nicht unvorbereitet entgegensehen. Deshalb wird Anfang August 1291 zwischen den Ländern Uri, Schwyz und Nidwalden (Obwalden gehörte diesem Bund nicht an) ein sogenannter Landfrieden, ein typisches Dokument dieser Zeit, besiegelt (siehe deutsche Übersetzung unten). Die Absicht dahinter: Ausschaltung der Fehde, Streitigkeiten sollen vor Gericht gebracht werden. Die Artikel 6 bis 9 behandeln denn auch klassische Fehdeursachen. Bemerkenswert ist Artikel 13: Den gemeinen Nutzen auf ewig fördern. Die Schaffung von Frieden wird hier als Ziel festgehalten. 200 Jahre vor dem Ewigen Reichslandfrieden zu Worms wird in einem Dokument ewige Friedenssicherung postuliert. Das ist beachtenswert. Hervorzuheben sind die Artikel 2 und 3: «Auf jeden Fall hat jede Gemeinde der andern Beistand auf eigene Kosten zur Abwehr und Vergeltung von böswilligem Angriff und Unrecht eidlich gelobt in Erneuerung des alten, eidlich bekräftigten Bundes, jedoch in der Weise, dass jeder nach seinem Stand seinem Herren geziemend dienen soll.» Das bedeutet keinesfalls eine angestrebte Ablösung von Herrschaftsrechten. Die vielfach erwähnte antihabsburgische Stossrichtung ist in diesem Dokument nicht zu finden.

Streit innerhalb der Urschweiz

Für die Geschichte der Alten Eidgenossenschaft ist das Dokument von 1291 denn auch eher unwichtig, spätestens nach dem Bund von 1315 ging es vergessen. Als Ende des 19. Jahrhunderts die neu entstehenden Nationalstaaten ihre Wurzeln möglichst weit zurück ins Mittelalter belegen wollten, kam es zum Streit zwischen Uri, Brunnen und Schwyz. Die Gemeinde Schwyz als Aufbewahrungsort der Urkunde von 1291 sah sich dabei im Vorteil, da sie die älteste noch erhaltene Urkunde vorweisen konnte, die auf einen Bund der Urschweizer Kantone hinwies. Uri seinerseits stützte sich in seiner Argumentation auf die Überlieferung von Aegidius Tschudi (1505–1572), der die Anfänge der Schweiz auf den Rütlischwur zurückführte – die Informationen holte er sich aus dem Weissen Buch von Sarnen, das um 1470 von Kanzleischreiber Hans Schriber verfasst wurde und zum ersten Mal die Sagen vom Schützen Tell, vom Burgenbruch und vom Bundesschwur der drei Urkantone miteinander in Verbindung bringt. Schriber gibt für die Ereignisse kein Datum an, nur die Jahrzahl. Also setzt Tschudi kurzerhand ein Fantasiedatum ein: «Mittwoch vor Martini» (8. November 1307), wohlwissend um die Kraft präziser Daten. Und noch 1907 feierten die Urner 600 Jahre Rütlischwur.

9. Dezember 1315: Bund von Brunnen

Brunnen schliesslich steht für den Bund von 1315 ein, der ursprünglich und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bei der Entstehung der Eidgenossenschaft im Vordergrund gestanden hatte. Dieser Bund von Brunnen wurde nach der für Uri, Schwyz und Unterwalden erfolgreichen Schlacht am Morgarten geschlossen (9. Dezember 1315). Sein in deutscher Sprache abgefasster Text wurde im Unterschied zu demjenigen von 1291 bereits im 14. Jahrhundert wiederholt abgeschrieben. Das bedeutet, dass ihn die Zeitgenossen als grundlegend ansahen. Zudem spricht das Dokument erstmals ausdrücklich von Eidgenossen («Eitgenozen»). Doch wie kommt es, dass die Schweiz den Bundesfeiertag am 1. August begeht und nicht am 8. November oder gar am 9. Dezember? Dies liegt etwas mehr als 100 Jahre zurück. 1891 entschied sich das liberale Parlament für das möglichst weit zurückliegende Datum, das auch urkundlich belegt werden konnte. Die Sieger des Sonderbundkrieges von 1847 reichen den Verlierern die Hand und erheben deren Geschichtsbild mit Rütlischwur und Bundesbrief zur offiziellen Gründungsgeschichte und den 1. August zum Bundesfeiertag. Thomas Maissen schreibt in seinem Buch «Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt» dazu: «Anfang und Kern des Schweizerbundes lagen also angeblich in den katholischen Gefilden, in denen der Widerstand gegen den Bundesstaat und dessen moderne Freiheiten seit jeher seine Bastionen hatte. Obwohl die Eidgenossenschaft erst dank den grossen Territorien der später reformierten Kantone Zürich und Bern die Voraussetzungen erlangte, um sich als europäischer Kleinstaat auf Dauer zu behaupten, wollte man um 1900 im frühesten belegten Bündnis den Samen erkennen, aus dem der Schweizer Stamm erwuchs.»

 

Literatur

Thomas Maissen, Geschichte der Schweiz, Verlag hier+jetzt, Baden, 5. Auflage, 2015

Thomas Maissen, Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt, Verlag hier+jetzt, Baden, 3. Auflage; 2015.

Der in Latein abgefasste Bundesbrief vom August 1291. (Foto: Keystone)
Der in Latein abgefasste Bundesbrief vom August 1291. (Foto: Keystone)

«Im Hinblick auf die Arglist der Zeit»

Deutsche Übersetzung des Bundesbriefs vom August 1291

«In Gottes Namen. Amen. Das öffentliche Ansehen und Wohl erfordert, dass Friedensordnungen dauernde Geltung gegeben werde. (1) Darum haben alle Leute der Talschaft Uri, die Gesamtheit des Tales Schwyz und die Gemeinde der Leute der unteren Talschaft von Unterwalden im Hinblick auf die Arglist der Zeit zu ihrem besseren Schutz und zu ihrer Erhaltung einander Beistand, Rat und Förderung mit Leib und Gut innerhalb ihrer Täler und ausserhalb nach ihrem ganzen Vermögen zugesagt gegen alle und jeden, die ihnen oder jemand aus ihnen Gewalt oder Unrecht an Leib oder Gut antun. (2) Und auf jeden Fall hat jede Gemeinde der andern Beistand auf eigene Kosten zur Abwehr und Vergeltung von böswilligem Angriff und Unrecht eidlich gelobt in Erneuerung des alten, eidlich bekräftigten Bundes, (3) jedoch in der Weise, dass jeder nach seinem Stand seinem Herren geziemend dienen soll. (4) Wir haben auch einhellig gelobt und festgesetzt, dass wir in den Tälern durchaus keinen Richter, der das Amt irgendwie um Geld oder Geldeswert erworben hat oder nicht unser Einwohner oder Landmann ist, annehmen sollen. (5) Entsteht Streit unter Eidgenossen, so sollen die einsichtigsten unter ihnen vermitteln mit dem Teil, der den Spruch zurückweist, die anderen entgegentreten. (6) Vor allem ist bestimmt, dass, wer einen andern böswillig, ohne Schuld, tötet, wenn er nicht seine Unschuld erweisen kann, darum sein Leben verlieren soll und, falls er entwichen ist, niemals zurückkehren darf. Wer ihn aufnimmt und schützt, ist aus dem Land zu verweisen, bis ihn die Eidgenossen zurückrufen. (7) Schädigt einer einen Eidgenossen durch Brand, so darf er nimmermehr als Landmann geachtet werden, und wer ihn in den Tälern hegt und schützt, ist dem Geschädigten ersatzpflichtig. (8) Wer einen der Eidgenossen beraubt oder irgendwie schädigt, dessen Gut in den Tälern soll für den Schadenersatz haften. (9) Niemand soll einen andern, ausser einen anerkannten Schuldner oder Bürgen, pfänden und auch dann nur mit Erlaubnis seines Richters. (10) Im übrigen soll jeder seinem Richter gehorchen und, wo nötig, den Richter im Tal, vor dem er zu antworten hat, bezeichnen. (11) Gehorcht einer dem Gericht nicht und es kommt ein Eidgenosse dadurch zu Schaden, so haben alle andern jenen zur Genugtuung anzuhalten. (12) Entsteht Krieg oder Zwietracht zwischen Eidgenossen und will ein Teil sich dem Rechtsspruch oder der Gutmachung entziehen, so sind die Eidgenossen gehalten, den andern zu schützen. (13) Diese Ordnungen sollen, so Gott will, dauernden Bestand haben. Zu Urkund dessen ist auf Verlangen der Vorgenannten diese Urkunde gefertigt und mit den Siegeln der drei vorgenannten Gemeinden und Täler bekräftigt worden. Geschehen im Jahre des Herrn 1291 zu Anfang des Monats August.»