Wir waren bei den Welschen – und sie bei uns. Aber sind wir uns in den Corona-Ferien auch nähergekommen?

«Isch das immer no Schwiiz?», fragt der siebenjährige Sohn, als wir nach zwei Tagen Neuenburgersee weiter südwestwärts fahren, an den Genfersee, und Halt machen in Morges VD. Die Frage ist berechtigt, die Seepromenade hat das Flair der Côte d’ Azur, doch obendrauf öffnet sich noch ein atemberaubender Blick auf den Mont Blanc.

An der Côte d’ Azur war unser Sohn noch nie. Es war die lange Autofahrt, die ihn fragen liess. Ja, das ist immer noch Schweiz, am Glacéstand zahlen wir mit Franken, der letztgültige Beweis. Aber da drüben auf der anderen Seeseite, vis-à-vis von Morges, da hätten wir bereits Euro gebraucht: Evian.

Es ist der Sommer, in dem die meisten Schweizerinnen und Schweizer weder nach Skandinavien noch nach Amerika fliegen, sondern das eigene Land entdecken. Auch und gerade die anderssprachigen Landesteile. 2016 gab es noch Schlagzeilen wie «jeder vierte St. Galler war noch nie in der Romandie» oder «jeder fünfte Genfer war noch nie in der Deutschschweiz», nachdem eine Umfrage eine hohe gegenseitige Ignoranz diagnostiziert hatte.

Jetzt lauten die Schlagzeilen anders. «Bienvenue, les Romands!», titelte die «Luzerner Zeitung». Hoteliers berichteten von hohen Übernachtungszahlen. Luzern Tourismus hatte die Region in der Romandie vermarktet, mit einer 16-seitigen Beilage in Westschweizer Tageszeitungen.

Jean Denis und Marie-Christine Chavaillaz geniessen ihren Platz an der Reuss.

Jean Denis und Marie-Christine Chavaillaz geniessen ihren Platz an der Reuss.

© Nadia Schärli (Luzern, 14. Juli 2020

In einzelnen Ostschweizer Regionen war von einem «Ansturm der Romands» die Rede. Im Alpstein hätte die Westschweizer Gäste den Wegfall ausländischer Touristen praktisch wettgemacht, teilte die Tourismusorganisation mit.

Sie waren bei uns: Die Familien Bartelle und Harris aus Neuenburg vor dem Berggasthaus Äscher-Wildkirchli.

Sie waren bei uns: Die Familien Bartelle und Harris aus Neuenburg vor dem Berggasthaus Äscher-Wildkirchli. © Raphael Rohner

Ob Romand oder Alémanique, wir wollen beide dasselbe

Auf den Campingplätzen am Bodensee hingegen, so ergab ein Augenschein des «St. Galler Tagblatts», waren Romands und auch Tessiner aber eher rar. Die Lateiner sind offenbar nicht derart campingversessen wie die Alémaniques, die ihrerseits manchen Campingplatz am Neuenburgersee dominierten, wie die Autokennzeichen verrieten. Sonst aber scheinen West- und Deutschschweizer gar nicht so unterschiedlich zu ticken, wenns um Ferien geht. Fragt man bei den Tourismusvermarktern nach, was denn die Gäste von drüben schätzten, heisst es in Luzern: «Ein bisschen von allem. Berge, See und Natur, aber auch die Stadt.» Die Neuenburger Vermarkter formulieren es fast identisch.

Das Erfolgsrezept scheint ein Mix zu sein, zu dem mit Vorteil auch ein See gehört. In einem kleinen Radius vieles erleben zu können, wie das etwa in Neuenburg möglich ist: Urbanität und Internationalität am Seeufer, Bars und Shoppingmöglichkeiten und zugleich Ausflugsmöglichkeiten ganz in der Nähe, schnell ist man tief in der Natur und in der Einsamkeit. Letztere sollte man allerdings nicht auf dem Creux du Van suchen, nicht einmal wenn das instagramträchtige Plateau auf 1400 Meter Höhe im Nebel liegt.

Creux du Van im Jura.

Creux du Van im Jura. © Bertrand Gardel / Alamy

Ein Ausflug dorthin ist naheliegend, und auch auf die Idee, das Schloss Chillon zu besuchen, kommt man schnell. Aber eine Frage stellte man sich im anderen Landesteil immer wieder: Was genau sollen wir anschauen gehen?

Überforderte Familien und ideenlose Reisebüros

Familien, die sich Sommerferien in Hotelresorts mit Vollprogramm oder auf riesigen Campingplätzen mit Meeranstoss gewohnt sind, konnten schnell überfordert sein. Wer eine Kreuzfahrt bucht, braucht nur noch anzukreuzen, welche Ausflüge er machen will. Diese Bequemlichkeit fehlt auf einer Schweiz-Reise. Es gilt, das Programm selber zusammenzustellen, und das kann für manch eine Familie zur konfliktträchtigen Bewährungsprobe werden. Zumal die lokalen Touristiker nicht allerorts bereit waren für die exkursionslustige Familien.

Nur vereinzelt gab es kreative Angebote, wie etwa jenes der Sunstar-Hotels, die Schweiz-Arrangements verkauften, mit Übernachtungsmöglichkeiten an ihren Standorten und Vorschlägen für eine siebentägige Tour. Da hat die Branche eine vielleicht einmalige Chance verpasst: Ein Romandie-Paket und ein analoges Programm für die Deutschschweiz – das wäre auf Interesse gestossen.

Das Beistell-Bett für das dritte Kind kostet 50 Franken extra

Vor allem wenn es auch preislich attraktiv gewesen wäre. Denn das war auch eine Erfahrung für viele Familien, die sonst Pauschalferien am Meer verbringen: Wer ein, zwei Wochen Ferien in der Schweiz macht, der lässt deutlich mehr Geld liegen. Und es kommt vor, dass man mangels Familienzimmer zwei Doppelzimmer bucht und dann für das dritte Kind obendrein noch 50 Franken Zuschlag zahlen muss. «Für das Beistell-Bett», wie es kurz angebunden heisst. «Typisch Schweiz», denkt man sich da und sieht, dass alte Klischees munter weiterleben. Dabei müsste man Neo-Gäste so behandeln, dass sie nach Corona wieder kommen.

Denn die binnenschweizerische Personenfreizügigkeit ist für den darbenden Tourismus der vielleicht einzige Rettungsanker. Bis zu den Sommerferien waren die Zahlen brutal. Im April brach die Zahl der Logiernächte im Vergleich zum Vorjahresmonat um 92 Prozent ein, im Mai betrug das Minus 79 Prozent, im Juni immer noch 62 Prozent (bei Schweizern minus 25 Prozent, bei Ausländern minus 88 Prozent), doch im Ferienmonat Juli und auch im August sieht es ganz anders aus.

Im Tessin läuft es im Juli und August so gut wie letztes Jahr

Nicht in den Städten, aber in vielen Bergregionen und auch im Tessin ist man zum Teil wieder auf dem Niveau von 2019. «Im Juni fehlte uns ein Drittel der Gäste, doch im Juli und August sind wir vielleicht wieder so gut unterwegs wie im letzten Jahr», sagt ein Sprecher der Tessiner Tourismusagentur – und das, obwohl der Kanton ohne Filmfestival und Moon&Stars auskommen muss. Dafür werden aus dem Verzascatal Bilder von Menschenmassen versendet, die sich im Wasser abkühlen – grösstenteils Deutschschweizer.

© CH Media

© CH Media

Der touristische Austausch zwischen den Landesteilen hat die Erwartungen übertroffen. Doch hat er auch dazu geführt, dass wir uns näher kamen? Vielleicht werden Soziologen den Coronasommer auf diese Frage hin dereinst untersuchen, vorderhand bleiben nur episodenhafte Eindrücke.

Deutsch oder Französisch? Am Ende eben doch Englisch

Als wir die höchst spannende Tour durch die Salzmine von Bex VD machten, wo das «Sel des Alpes» gewonnen wird, wurde die Besuchergruppe artig in Deutsch- und Französischsprachige geteilt. Sprachtouristische Apartheid, doch der charmante französische Akzent des Deutsch sprechenden Guides machte vieles wieder wett.

Ein wiederkehrendes Erlebnis in Hotels am Genfersee: Man stellt als Deutschschweizer eine Frage auf Französisch und bekommt dann auf Englisch Antwort (was an unserem Französisch liegen muss). Das fiel, eher erleichtert, vor allem unserer Tochter, 11, auf, die nach den Sommerferien erstmals Französischunterricht hat: «Englisch ist schon wichtiger.»

Fast wie bei einer Landesausstellung

Trotzdem, diese Ferien erinnern an den Expo-Sommer 2002, als sich hunderttausende Deutschschweizer zwischen Biel und Yverdon tummelten. Und war das gegenseitige Näherkommen bei der Expo, für die der Bund 1,6 Milliarden Franken ausgab, wirklich ausgeprägter als bei diesen Sommerferien? Damals gab es so vieles zu sehen und zu bewundern, heute ebenso, ganz ohne staatliche Lenkung, und warum nicht auch nächstes Jahr?

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Rotschuo/Gersau – Achtung, Klischees

Manche Klischees sind so klischiert, dass man staunt, wenn sie sich bewahrheiten. Die schönste Bucht am Vierwaldstättersee haben nun also auch die Romands entdeckt. Und wenn sie merken, dass man französisch spricht, dann freuen sie sich. «Wollt ihr ein Glas Wein?» Ja, und bald noch ein zweites. Ja, die Walliser sind gesellig, weinselig. Sie sind wissbegierig – und lieben ihr Auto. Sehr sogar. An einem Tag die Hohle Gasse, den Gletschergarten in Luzern und die Glasi Hergiswil – und dann wieder um den halben Vierwaldstättersee zurück (die Fähre verpassten sie). Ja, diese Unterwalliser Familie wollte nichts verpassen bei ihrem Sprung in die Deutschschweiz. Nur die Königin der Berge liess sie aus. «Rigi? Die schönsten Berge haben wir!»
Doris Kleck

Die Rotschuo in Gersau.

Die Rotschuo in Gersau.

© Remo Nägeli

Biel/Bienne – die Geheimnisse einer B-Stadt

In jedem Land gibt es A-Städte (die vermeintlich wichtigen). Und es gibt B-Städte – das sind solche, die man selten auf dem Radar hat. «Warum ausgerechnet Biel als Ferienziel?» wurde ich darum oft gefragt. Aber der Fall ist klar: B-Städte sind sehr cool. Sie sind nicht so hochglanzpoliert und man kann ungeahnte Preziosen entdecken. Individuelle Läden? Die Bieler Altstadt ist voll davon. Cafés und Restaurants mit Kultstatus? An jeder Ecke (zum Beispiel das «Odéon», das diesen Spruch an der Fassade hat: «À l’Odéon tout est bon».) Natur? Die Weinküste am Bielersee mit ihren Dörfern ist wie gemalt. Und das Highlight: Wie in Biel mit der Zweisprachigkeit umgegangen wird, ist sensationell. Fazit: B-Städte sind die wahren A-Städte.
Sven Gallinelli

Weinlese auf dem Rebgut Engelberg am Bielersee.

Weinlese auf dem Rebgut Engelberg am Bielersee.

© Pius Amrein

Val des Dix – Wildlife-Tipps statt Zämeschiss

Meinem Begleiter war unwohl bei der Sache. Wir standen mit dem VW-Bus an einer Bergstrasse im Walliser Val des Dix. Ich klappte das Schlafdach auf und er fragte: «Darf man das, einfach hier übernachten?» Nein, man darf eigentlich nicht. Wildcampieren ist in vielen Schweizer Gemeinden verboten – und wegen der Abfallsünder auch immer weniger toleriert. Wir machtens trotzdem, mit Blick auf die Grande-Dixence-Staumauer. Und dann hielt direkt neben uns ein Geländewagen. Jetzt gibts Ärger, dachte ich. Doch statt mahnender Worte sagte der Fahrer nur: «Wollt ihr Steinböcke sehen? Da vorne ist eine ganze Herde. Gute Nacht!» Mittelländische Regelverbissenheit, das lernten wir, hat in engen Walliser Seitentälern keinen Platz.
Samuel Schumacher

Stausee Grande Dixence.

Stausee Grande Dixence.

© Maxime Schmid / Keystone

Romandie – «Möchten Sie ein Glas Wein?»

Eigentlich wollte ich nach Irland, eine Mietwagentour entlang dem Wild Atlantic Way, mit Übernachten in Bed and Breakfast, das war der Plan. Dass das nicht funktionieren würde, war rasch klar. Und so reiste ich drei Wochen durch die Schweiz. Die ersten Etappen führten mich auch in den Westen: nicht ans wilde Meer, sondern an die schönen Seen der Romandie. Wenn man in Irland abends im BnB ankommt, offerieren einem die Gastgeber oft Tee. Diese Tradition gibt es in der Schweiz nicht – dafür fragten mehrere Gastgeber: «Möchten Sie ein Glas Wein?» Bei einem kühlen Weisswein aus der Region kamen wir ins Gespräch, ob auf Französisch oder Deutsch. Merci beaucoup nochmals dafür, den Tee habe ich nicht vermisst.
Fabian Hägler

Wanderer machen eine Pause an einem kleinen See in der Nähe des Weilers Le Peu-Pequinot bei Le Noirmont im Kanton Jura.

Wanderer machen eine Pause an einem kleinen See in der Nähe des Weilers Le Peu-Pequinot bei Le Noirmont im Kanton Jura.

© Martin Ruetschi / Keystone

Losone – «Serpenti» anstatt «Schlangen»

Die Flüsse Maggia und Melezza bieten Abkühlung und sind ein Endlossandkasten. Im Lago Maggiore schwimmen die grössten Gfrörli akklimatisationsfrei ein paar Züge. Das Praktische: All das ist ab Losone, gelegen zwischen Locarno und Ascona, in 10 Velominuten erreichbar. Wir haben den Ort bereits zu Vorcoranazeiten entdeckt. Schon früher dominierte Schweizerdeutsch, dieses Jahr noch akzentuiert. In den entscheidenden Momenten aber, wie etwa einer Flusswanderung in der Melezza, erklingt die Sprache Dantes. Die Leute sprechen von «serpenti», die sich zwischen den Steinen verkriechen. Ich war molto contento; das Stichwort «Schlangen» hätte unseren Kleinen certamente einen grossen Schrecken eingejagt.
Kari Kälin

Touristen baden in der Maggia bei Ponte Brolla im Tessin.

Touristen baden in der Maggia bei Ponte Brolla im Tessin.

© Alessandro Crinari / Keystone

Verzascatal – Abseits von den Hotspots

Das Tal ist «dank» Instagram keine Unbekannte. Tag für Tag fahren Hunderte Touristen für ein Selfie nach Lavertezzo, dem Ort mit der alten Römerbrücke, dem karibikfarbenen Wasser und den vom Wasser abgeschliffenen Steinen, die als perfekte Liegeunterlage dienen. Der Massenandrang und das Parkierchaos wirken hier schon abschreckend. Doch das Tal hat weit mehr zu bieten als nur diesen Hotspot. Wer sich nur ein wenig talaufwärts bewegt oder in eines der vielen Seitentäler, der findet problemlos ein schönes Becken zum Baden und einen bequemen Stein zum Sönnelen. Am besten, man verbindet es mit einer kleinen Wanderung – zum Beispiel von Brione nach Lavertezzo (mit Kindern ca. 2 h Marschzeit).
Roman Schenkel

Menschen geniessen sonniges Wetter am Verzascafluss im Verzascatal in Lavertezzo.

Menschen geniessen sonniges Wetter am Verzascafluss im Verzascatal in Lavertezzo.

© Keystone

Bodenseefähre – «Also bei uns …»

Auf der Bodenseefähre wird Französisch gesprochen, auffallend viele Autos haben ein Westschweizer Nummernschild. Freiburger, Waadtländer, Genfer sogar. In Coronazeiten entdecken ihn die Romands: den anderen grossen See, am anderen Ende der Schweiz. Und so eine Fährenfahrt ist die perfekte Gelegenheit, sich dem Ferienspiel «Also bei uns …» zu widmen. «Die Toiletten auf dem Schiff hier sind viel sauberer als bei uns auf dem Lac Léman», findet ein gut gelaunter Mittfünfziger aus – das Nummernschild verrät’s – dem Waadtland. «Dafür sind bei uns die Berge so spektakulär!», insistiert seine Begleiterin. Der Mann nickt: «Ja, und hier am Bodensee haben sie noch die Deutschen und die Österreicher, wir haben schon mit den Franzosen genug.»
Sven Altermatt

Die Bodenseefähre im Hafen von Romanshorn.

Die Bodenseefähre im Hafen von Romanshorn.

© Chris Mansfield

Thun – «Sur l’Aar quand le soleil»

Diesen Sommer gab es so viele Romands auf der Aare wie noch nie, erklärt unsere Thuner Bootsführerin. Nationalfeiertag auf dem Fluss: Erste Feuerwerke gehen hoch, Feuer und Grill an den Ufern, im Strom treiben Schlauchboote, aufblasbare purpurne Kraken und rosa Einhörner mit welschen und deutschschweizerischen Besatzungen. Sie preien sich an, gebrochenes Französisch hier, klischeehafte «Chuchichäschtli» da, farbenfrohes Gelächter überall. Mir kam dabei ein warmes Gefühl hoch: Die Gewissheit, dass wir Eidgenossen zwar nicht alle im gleichen Boot sitzen, oft zusammenstossen, aber dass wir trotz allem in dieselbe Richtung treiben. Bis zur Flussbiegung, nach der wir das Bundeshaus im Strahlenmeer sehen. Und weiter.
Jocelyn Daloz

Auf der Aare  zwischen Thun und Bern ist mächtig viel los.

Auf der Aare zwischen Thun und Bern ist mächtig viel los.

© Keystone