
Wo Niklaus Thut in Zofingen auf neues Futter wartet
Mitten in der Altstadt Zofingens konnte man 1974 auf ein Gerüst hochsteigen und dem Stadtheiligen Niklaus Thut auf Augenhöhe gegenübertreten. So neckisch die Idee im Rahmen des volksnahen künstlerischen Projekts Zofiscope war: Dieses Aufbegehren hat den Stadtpatron nur als feste Instanz bestätigt. Einer solchen Installation fehlt aus heutiger Sicht die gesellschaftliche Sprengkraft. Die Legenden um Niklaus Thut, der in der Schlacht zu Sempach 1386 zum Esser der Fahne wurde, um sie vor dem Feind zu retten, ist als selbstdefinitorischer Zofinger Akt entlarvt. Heute, 44 Jahre später, ist die Legendenbildung entzaubert. Das Feld ist damit frei für die Kunst, die Zofinger Mythologie facettenreich und mitunter auch satirisch zu inszenieren.
Niklaus Thut im Gehäuse
Die Qualität der Ausstellung Neoscope 18, die heute Samstag im Kunsthaus Zofingen startet, liegt im Unbeschwerten, Verspielten. Ganz auf die Gegenwart gerichtet, entzünden sich die meist eigens für die Ausstellung geschaffenen Werke am Ideenreichtum des Kunstprojekts Zofiscope 74 (siehe Kasten). Daniel Bracher, Künstler aus Oftringen, versteckt Niklaus Thut im Obergeschoss des Kunsthauses in einem Haus aus Stroh. Zwischen den Ritzen der auf einem Holzgerüst gestapelten 80 Ballen leuchtet helles LED-Licht hervor. Das Haus ist eine Reminiszenz an den Stadtbrand von 1396, der fast alle Spuren von Niklaus Thut ausgelöscht hat. Der Mann ist dank diesem Brand überhaupt erst für die Zofinger Wunschmythologie verwertbar geworden. Das Strohhaus lässt sich nicht betreten. Wer durch eine Spiegellinse hineinschaut, sieht Thut im Kindeskörper und aufgesetztem Erwachsenenkopf auf einem Tripp-Trapp-Stuhl sitzen. Hungrig wartet die geweisste Figur auf seinen Brei. Wer gibt jetzt dem Fähnlifresser seine ursprüngliche Existenz wieder? Was wollen und dürfen wir in diesem zum Helden der Magensäfte Erhobenen heute sehen? Is(s)t er einfach das, was man ihm auf den Teller reicht?
Bänder und Partituren
Auch anderen Künstlern gelingt es, Zofiscope-Ideen auf einer Metaebene vielschichtig aufgefächert zu reflektieren. Das experimentelle stimmliche Geräusch- und Artikulationsstück «Glossolalie», das 1974 für Furore gesorgt hat, findet gleich in zwei Kunstwerken ihr Echo. Tanja Baltermia und Maria Bänziger übersetzen die komplizierte Partitur mit vielen Textanweisungen in die partizipative Installation «Drehmoment». Das Publikum ist dazu aufgefordert, lange Bänder voller Löcher und ausgeschnittener Schriftzüge durch die Tonzungen von Walzenspieldosen zu drehen. Die Absurdität dieser Mechanik macht den fast etwas überkandidelten Anspruch der Glossolalie auf witzige Art sichtbar. Auch Serena Amrein hat sich der Glossolalie angenommen. Sie greift der digitalen Stadtkarte von Zofingen aus der Vogelperspektive die markantesten Lärmpunkte ab, fertigt daraus eine Partitur und legt sie über jene der Glossolalie. Die Stadt-, Geräusch und Klangtopographie voller Taktstriche, Notenlinien und Lärmpunkte erstrecken sich im Kunsthaus über eine Breite von 11 Metern. Serena Amrein hat sie mit schwarz überpuderten Expandern in die Wand hineingeschlagen. Weil die Schlagseilspuren verpudert sichtbar sind, hat die Partitur eine geradezu skulpturale Wirkung.
Kunst im Fadenkreuz
Alex Dorici hat im Erdgeschoss ein Fadenkreuz aufgespannt und zielt damit im ehemaligen Schützenhaus in den Raum hinein respektive – vor allem bei Nacht – neonfarben daraus hinaus. Den Raum überspinnt er nicht nur im Kunsthaus mit dreidimensionalen Geflechten und Strukturen aus Schnur und Klebeband. Am 12. Mai wird er seine Netze bereits frühmorgens in der Stadt auswerfen. Christian Ratti erkundet die Physiognomie der Stadt Zofingen anhand ihrer Dolendeckel. Einer davon ist im Kunsthaus aufgebaut. Eine Taschenlampe lädt dazu ein, der Stadt durchs Dolengitter heimzuleuchten, im Untergrund ist eine Amphibienleiter mitsamt Frosch zu entdecken. Am 12. Mai wird Ratti eine alternative Stadtführung anbieten und dem Publikum die Charakteristik Zofingens anhand ihrer Dolendeckel vor Augen führen.
Die Ausstellung Neoscope 18 im Kunsthaus ist in vielerlei Hinsicht living in process. Joëlle Valterio hat verschiedene Materialien wie Schnur, Stifte und Papierrollen ausgebreitet. Mit diesen Werkzeugen wird sie während der Auffahrtswoche täglich Abdrücke aus dem Stadtbild herstellen und nach und nach der Ausstellung hinzufügen. Der Filmschaffende Andi Hofmann wird in Anlehnung an die Dokumentarfilme von Zofiscope fünf Filmporträts mit markanten Zofinger Persönlichkeiten erstellen. Als Vorgeschmack auf seine Arbeit ist im Obergeschoss der unsere Knopfdruckorientierte Gesellschaft thematisierende Filme «Plattenspieler» zu sehen, an dem er beteiligt war. Auch sein die Selbstwahrnehmung hinterfragende Film «Appartment 9» ist von existenzieller Wucht. Und Nesa Gschwend erstellt mit der Zofinger Bevölkerung aus Stoffresten, die persönliche Erinnerungen bergen, im Projekt Livin in Fabric einen Teppich, der dann in Neoscope 2019 ausgestellt sein wird.
Neoscope 18 – eine Ausstellung führt sich auf
Die Ausstellung Neoscope 18 setzt die Ausstellung Neoscope 17 vom Spätsommer 2017 fort. Der Akzent liegt dieses Mal sehr viel stärker im Dialog mit der Bevölkerung. Zwar ist die Ausstellung im Kunsthaus nicht provisorisch und funktioniert bereits als in sich geschlossene Einheit. Und doch ist vieles in dieser Ausstellung noch im Entstehen begriffen und will noch erlebt werden.
Dreh- und Angelpunkt von Neoscope ist das Performance-Fenster vom Auffahrtssamstag, 12. Mai. Während des ganzen Tages sind die Künstler in der Stadt mit Performances unterwegs. Das Programm reicht von der frühmorgendlichen Scotch-Klebeaktion übers Teppichweben mit mitgebrachten Stoffen, der Aufführung eines Musikstücks bis hin zu einer Open-Performance und einem dolologischen Spaziergang durch die Stadt.
Vernissage Spezial:
Samstag, 5. Mai
– Ab 19 Uhr: Bar und Food vom OXIL-Team
– 20 Uhr: Ansprache Michael Sutter (Leiter Kunsthalle Luzern)
– 21.30 Uhr: «Insight Thut» (Live-Inszenierung mit Musik, Video und Performance) von Andi Hofmann und Daniel Bracher mit Oliver Schweizer, Fähnlifresser. Eine heitere Reise durch die Gedärme von Niklaus Thut.
Öffnungszeiten:
– Donnerstag, 18 bis 21 Uhr
– Samstag/Sonntag, 11 bis 17 Uhr
Weitere Informationen: www.kunsthauszofingen.ch